Katholisches Gesangbuch

Spiritual-Blues   

Der Ursprung der Spirituals ist uns nur teilweise bekannt. So wie wir sie heute kennen, sind sie ein Zeugnis der Leiden und Freuden der Schwarzen Amerikas, entstanden vor allem als ein Ausdruck der Hoffnung auf ein besseres Jenseits. Man darf allerdings den schwarzen Einfluss auf diese Gesänge nicht überschätzen. Nachdem die afrikanischen Neger einmal in Amerika waren, wurden sie sehr bald Amerikaner mit schwarzer Hautfarbe. Sie haben ihre nationale Eigenart nicht sehr viel mehr bewahrt als andere amerikanische Einwanderer. Jedenfalls gilt dies für die Zeit nach der Abschaffung der Sklaverei um 1865.

Den Weissen angepasst

Beim Anhören von Spirituals-Aufnahmen muss man sich bewusst sein, dass diese Lieder auf dem Weg zum Konzertpublikum meist sehr stark dem Geschmack der Weissen angepasst wurden. Von grossen Chören vorgetragen und von geschulten Sängern interpretiert, ergeben sie ein verfälschtes Bild ihrer ehemaligen Ursprünglichkeit und Vitalität.  Der Text lehnt sich sehr oft an Bibelvorlagen an. Es lag nahe, dass die erstmals um 1619 nach Amerika gebrachten Afrikaner, einmal Christen geworden, im jüdischen Volk des AT ihr eigenes Schicksal vorgebildet sahen: Unterdrückung, Irrfahrt, Hoffnung auf Freiheit und Besitznahme des gelobten Landes. Alles wird zum Sinnbild und Gleichnis: Der Mississippi zum Jordan, hinter dem das verheissene Kanaan des Jenseits liegt, die Gefangenschaft in Ägypten, aus dem sie Gott zu befreien verheisst usw.

Allerdings vermengen sich mit diesen biblischen Vorstellungen sehr viele profane. Im Denken der Schwarzen schafft dies keine Probleme. Das tägliche Leben steht neben dem Wort Gottes, das gleichermassen eine selbstverständliche Realität ist. So wünscht sich der Schwarze beispielsweise einen erstklassigen Pullmanwagen zur Fahrt in den Himmel, wo Gott wohlduftende Havanas raucht, wo es in den Wolken Stände mit Leckerein gibt usw.

Form

Die ursprüngliche Form bestand im Wechselgesang zwischen Vorsänger und Gemeinde. Oft handelt es sich um Alltagsschöpfungen, frei improvisiert, aus einer emphatischen Predigt entstanden, mehr Stossseufzer als Lieder in unserm Sinn. Diese Ausrufe in ekstatischer Form erwecken oft den Eindruck von Beschwörungen. Nicht selten führen diese Lieder in eigentliche Trancezustände. Es versteht sich, dass derartige Augenblicksschöpfungen nur schwer musikalisch zu fixieren sind. Gelegentlich sind sie den auch recht substanzarm.

Ausdruckselemente

Vorwiegend schwarze Elemente: Parlandostil, Kurzmotive, responsoriale Form, ausgeklügelte und oft schwer feszulegende Rhythmik, oft kühne, fast zufällige Harmonik, keine Kadenzen in unserm Sinn.

Weisse Elemente: Eindringen von Harmonik in die ursprüngliche Pentatonik, die nur die Tonstufen c-d-e-g-a benützt. Mit der «blue note» geschieht eine Annäherung an unsere Diatonik (blue note = unsauberes Anpacken der Terz oder Sept, sodass man nicht genau weiss, ob das Intervall gross oder klein ist). Diese diatonische Unsicherheit wird später zu einem eigentlichen Stilelement des Jazz.

Mit diesen Vorgaben dürfte klar sein, dass es schwierig wird, solche Musik in andere Sprachen zu übertragen. Die Vielfalt der Stimmen und Variationen reduziert sich auf eine einzige Melodie, die differenzierte, federnde Rhythmik erstarrt zu Synkopen, die schöpferische Improvisation wird zum eingeübten Lied. Nach der Ausfilterung des schwarzen Elementes bleibt allzu oft nur eine pietistische Hymne, die man mit ein paar schrägen Rhythmen würzt. Zahlreiche eingedeutschte Spirituals belegen diesen Befund.

Der Blues

Der amerikanische (negroide) Spiritual und Blues sind sich thematisch und in der Form verwandt. Für viele Bluessänger ist der Blues etwas Heiliges: «Der Blues? Ja, der Blues ist ein Teil von mir. Der Blues ist für mich fast wie eine Religion. Er ist wie ein Gebet, das man singt. Der Blues ist wie die Spirituals, fast heilig…. Ja, für uns ist der Blues was Heiliges.» Das religiöse Erleben des Spiritual ist ähnlich umfassend wie das Existentielle des Blues und kann so an dessen Stelle treten. Es wirkt nicht aufgepfropft wie eine melancholische Stimmung, sondern ist das Blues feeling selbst. Dieser integrie-rende Zug der Aussage von Blues und Spiritual verleiht ihnen letztlich ihr gemeinsames Erleben, auch wenn ihre stimmungsmässige Färbung verschieden sein mag: «Es war ein ungeheures Erlebnis, Bessie Smith zu beobachten. Sie war eine recht grosse Frau und sie konnte Blues singen. Und immer hörte man bei ihr eine gute Portion Kirche heraus…..Wenn man aus dem Süden kam und in der Tradition der Kirchenmusik aufgewachsen ist, wie ich, konnte man erkennen, wieviel Ähnlichkeit ihre Art zu singen mit der Kirchenmusik da unten hatte. Genauso singen im Süden die Prediger und Evangelisten und mit genau denselben Mitteln bringen sie die Menge in religiöse Verzückung. Der Süden hatte berühmte Prediger und Evangelisten. Einige von ihnen standen an Strassenecken und rüttelten von da aus die Menge auf. Dasselbe tat Bessie auf der Bühne. In gewissem Sinne hatte sie Ähnlichkeit mit Leuten wie heutzutage Billy Graham. Bessie stand mit diesen Leuten auf einer Stufe. Sie konnte die Massen hypnotisieren.» (R. Hagen, Jazz in der Kirche, Stuttgart 1967. 63f.) Wegen dieser Ähnlichkeit von Spiritual und Blues hinsichtlich der Erlebnisskomponente konnte der spätere Gospel Song viele Elemente des Jazz und Blues im religiösen Lied übernehmen. «Es konnte sogar passieren, dass die Gemeinde die ganze Zeit im Rhythmus Amen schrie, wenn der Prediger mit Worten und durch seinen Gesang, der wie Blues klang, sie aufrüttelte.» (ebd. S.64)

Walter Wiesli




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