Katholisches Gesangbuch

Rockmusik   

Die Wurzeln der Rockmusik liegen in der afroamerikanischen Musiktradition der Spirituals, der Gospelsongs, des Blues und des Rhythm & Blues. Die prägenden Elemente dieser Traditionen waren und sind die rhythmische Betonung, die Improvisation, der Call-and-Re-sponse-Gesang  (Ruf-Antwort-Gesang) und die Tendenz zu blue-notes (als stimmliches wie instrumentalen Ausdruckmittel). Diese Komponenten ermöglichen eine eher ekstatische Musizier- und Rezeptionsweise. In der Mitte der fünfziger Jahre führte das wachsende jugendliche Interesse am Rhythm & Blues zu Adaptionen weisser Musiker, die schliesslich unter der Bezeichnung Rock‘n‘Roll erfolgreich wurden. Nach einer Periode musikalischer Stagnation konnte zu Beginn der sechziger Jahre auf der britischen Insel eine Amateur-Band-Bewegung, die aus der Skiffle-Tradition hervortrat, dem rhythmusorientierten Musikstil aus den USA neues Leben einhauchen: Mit dem Beat wurde die später als Rock bezeichnete Musik zu einer authentischen Musik der Jugendlichen.

Heutiger Sitz im Leben

Dass Rockmusik in der Musikwelt der Gegenwart eine herausragende Bedeutung hat, ist unbestritten. Nicht weniger unbestritten ist, dass die lebensweltliche Erfahrung von Rockmusikliebhabern und das Lebensgefühl kirchlich Sozialisierter und Engagierter oft auseinanderklaffen. Was soll also die Frage nach einer Annäherung von Rockmusik und Gottesdienst?  Es geht hier nicht darum auszumachen, wo und wie Rockmusik liturgietauglich würde. Zunächst wäre zu versuchen, die entstandene Entfremdung von Menschen, die in säkularen Lebensräumen aufwachsen, zu benennen und ernst zu nehmen. Öfters führt der kirchliche Reichtum an Spiritualität, Liturgie und Musik zu einer Fixierung auf diese Werte und zu einer Ausgrenzung lebensgeschichtlich anders gewachsener und geprägter Frömmigkeit. Hinzu kommt, dass Spiritualität in Kreisen der Kirche von einer besonderen, exklusiven Aura umgeben ist. Der Glaubensweg wird dabei oftmals ästhetisiert und die religiöse Entwicklung stark mit traditionellen Bildungsidealen verknüpft: Spiritualität wird dann zu einer Lebens-Kunst, die nur wenigen zugänglich ist. Den eher populären Musikstilen wird die Qualität und die Fähigkeit, einen spirituellen Weg zu unterstützen, aberkannt. Jugendliche, deren Lebenswelten zum grossen Teil von Rock- oder Popmusik geprägt sind, aber auch Erwachsene, die sich diesbezüglich noch immer jugendbewegt geben, werden belächelt oder beargwöhnt. So findet diese Musik als entscheidende Komponente jugendlicher Alter wenig Raum im kirchlichen Leben. In den folgenden Überlegungen geht es in erster Linie darum: Ist es überhaupt denkbar, rockmusikalischer Weltaneignung im religiösen Leben der Kirche einen Platz zu gewähren? Diese Frage ist der Kirche gestellt, wenn sie nicht will, dass zentrale Bereiche der Welt Jugendlicher (und von mit Rockmusik sozialisierten Erwachsnen wurden) aus dem gemeinschaftlichen Leben ausgeklammert bleiben sollen. Was uns im Kontext dieser Musik aber zudem und vor allem interessiert, ist die lebensweltliche Bedeutung für junge Menschen und die spirituelle Bedeutung und damit verbundene religiöse Erfahrung. Wenn Rockmusik ein Weg religiöser Daseinserschliessung in einer bestimmten Lebensphase darstellt, kann die Bedeutung dieser Musik sowohl für Liturgen wie für Religionspädagogen nicht unbedeutend sein.

Rockmusik und Religion

Betrachtet man als Erstes die textliche Seite der Rockmusik, so begegnet man sowohl eindeutigen als auch impliziten religiöse Aussagen. Rockmusik dient vielfach als Vehikel persönlicher Gedanken über die letzten Sinnhorizonte des Lebens. Viele Texte sind ein Versuch einer mehr oder weniger bewussten Auseinandersetzung mit dem Sinn des Lebens. Religiöse Motivik findet sich aber nicht nur in Kreisen christlicher Popularmusik, sondern auch in den Bestsellern der internationalen Charts − mal mit mehr, mal mit weniger (bis keinem) Tiefgang. Aber nicht erst, wenn man über das Geheimnis des Lebens singt, ist man im Kontakt mit ihm. Eine Begegnung mit dem Lebensgeheimnis, das wir Christen Gott nennen, ereignet sich möglicherweise auch auf non-verbaler Ebene. In der Rockkultur, die vorwiegend auf körperlicher und damit nicht-begrifflicher Kommunikation beruht, könnten sich Phänomene finden, die auf einen solchen Sachverhalt verweisen.

Daneben zeigen sich aber auch deutliche Hinweise, dass Rockmusik zu einer Art Ersatzreligion wird. Der kultische Aufbau von Rockkonzerten und das ekstatische Treiben in Diskotheken zeugen davon. Die Musik könnte eine Mittlerfunktion  haben zwischen der alltäglichen Lebenswelterfahrung und einer unbewussten Sehnsucht nach Transzendenz. Der Mensch sucht und macht Transzendenzerfahrungen auch dann, wenn er diese nicht benennen kann.

Rockmusik und Spiritualität

Rockmusik kann als Medium gelten, in dem sich individuelle Spiritualität entfaltet. Im Umgang mit Rockmusik findet für viele eine Art ’profaner’ Transzendenzerfahrung im Alltag statt. Dies darf als eine Weise religiöser Identitätsfindung gedeutet werden; zumindest ist sie möglich, freilich unbewusst und nicht begrifflich. Die jungen Konsumenten von Rock und Pop haben in meistens kein differenziertes Weltbild, keine explizite Religion, die sich in bestimmten  Überzeugungen, reflektierten Erfahrungen, Maximen für den Alltag und praktizierten Frömmigkeitsformen ausdrücken würde, es geht wohl oft um eine vorbewusste, diffuse Religiosität. Die folgenden Äusserungen erlauben diesen Schluss: 

  • Rockmusik ist Körpermusik und ist darin ein Medium zur Kommunikation bei jungen Menschen.  Gerade wegen ihrer nicht-begrifflichen Offenheit bieten sich darin Identifikationsmöglichkeiten an, die den Einzelnen helfen können, Identitäten zu erproben und anzueignen. Es ist erwiesen, dass Formen des Tanzes Weisen der religiösen Identitätsfindung sind.
  • Die musikalischen Wurzeln stammen aus dem kultischen afro-amerikanischen Milieu. Dies lässt vermuten, dass in dieser ursprungshafte Verbindung nochöfters Anknüpfungspunkte zur Religion aufscheinen, die − bewusst oder unbewusst − ein religiöses Erbe verraten.
  • Viele Protagonisten greifen in den Texten explizit religiöse Themen auf. Aber auch implizit lässt sich in vielen Texten eine Nähe zu religiösen Fragen ausmachen. (Lebenssinn, Schuld usw.)
  • Mit zunehmender Entkirchlichung bietet die Gesellschaft «funktionalen Äquivalenten» an. Als solche lassen sich unschwer sowohl die Live-Events als auch kult-ähnliche Veranstaltungen in Diskotheken ausmachen. Die besondere Rolle der Sänger/innen als Identifikationsobjekt mit göttlichen Zügen und die Funktion der DJs als Zeremonienmeister unterstützen die These der kultischen Analogie.
  • Im Blick auf die Frage nach dem spirituellen Potential lassen sich ethische Dimensionen in der Rockkultur ausmachen, die auf ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein vieler Rockmusiker verweisen. Zum anderen kann Rocmusik unter einem weiten Spiritualitätsverständnis als eine «Transzendenzerfahrung im Alltag» gedeutet werden: Momente erfüllter Zeit, ein Lichtblick, der Diesseits und Jensseits vorübergehend deckungsgleich macht, Ahnung des Ganz-Andern. Dies mag in unserer Zivilisation manche auf einen Weg religiöser Daseinserschliessung führen.
  • Im individuellen, zumeist nicht-reflexiven Umgang mit rockmusikalischem Ausdruck lassen sich Anhaltspunkte für einen Lebensstil erkennen, der als Gestaltwerdung jugendlicher Religiosität gedeutet werden kann. Insofern könnten sich in der Beschäftigung mit Rockmusik und in der Anerkennung und Einbindung ihres spirituellen Potentials in der religionspädagogische Praxis wichtige Anregungen für die konkrete Begleitung religiöser Biographien ergeben.

Walter Wiesli




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