Katholisches Gesangbuch

Geistlicher Schlager   

Der Anlass

Erste Impulse für ein neues religiöses Lied gaben religiöse Chansons aus Frankreich. Als Erster trat Aimé Duval (1920) 1955 erfolgreich in Erscheinung. Sein Lied «Seigneur, mon ami» ging um die Welt. Père Maurice Jean Cocagnac (*1924) hatte sein Deutschlanddebut 1962 auf dem Katholikentag. Seine Lieder sind meist schlicht gereimte biblische Geschichten. Internationalen Schallplattenruhm erntete Soeur Sourire (*1933). 1964 gelangte ihr «Dominique» sogar auf Platz 1 der amerikanischen Hitparade.

1957 lud die Evangelische Akademie in Iserlohn (Nähe Dortmund) zu einer Diskussion über den religiösen Schlager ein. Anlass dazu waren zwei aus Amerika übernommene religiöse Schlager von Ralf Bendix (In the Beginning / Es war im Anfang; He can / Wer), die vor allem seitens der evang. Kirche abgelehnt wurden. Gleichzeitig kursierten zu dieser Zeit bereits erfolgreich die Lieder des französischen Père Duval, die bei Jugendlichen ein reges Echo fanden. Die Auseinandersetzung um die beiden ersten religiösen Schlager amerikanischen Stils in Deutschland betrachtete die jüngere Generation als gangbaren Weg für eine Erneuerung des Kirchenlieds. Allerdings zeigte sich auch, dass es innerhalb der Jugend unterschiedliche Strömungen gab, die es genauer auszuwerten galt.

Tutzing als Schrittmacher

Die Forderung der Iserlohner Tagung griff die Evangelische Akademie Tutzing in einer Tagung im September 1960 auf. Sie stand unter dem Motto «Ist Kirchenmusik isoliert ?». Erstmals veranstaltete sie ein Preisausschreiben für «neues geistliches Liedgut». Die Jury bildeten der Schlagerpfarrer Günter Hegele, Pfarrer Dr. Walter Blankenburg, Dekan Kelber (Bayrischen Landeskirchenrat), der Journalist Walter Haas und der Heidelberger Komponist Heinz W.Zimmermann. Auf das erste Preisausschreiben antworteten rund 500 Einsender von Dichtungen und Melodien. Den ersten Preis für Melodie und Text erhielt Pfarrer Martin Schneider für sein Lied «Danke».

Die Tutzinger Resultate wurden Anlass zu regen Diskussionen um diese Weise der Erneuerung des Kirchenlieds. Sowohl die textlichen Aussagen wie der Stil vieler dieser Lieder wurden kritisiert. In einem anonymen Brief an die Schriftleitung von «Der Kirchenchor» sieht der Autor im Schlager einen gangbaren Weg aus der Isolation der evangelischen Kirchenmusik und erklärt: «Die Kirchenmusik ist isoliert! Und es ist das Verdienst der Tagung, das so laut und deutlich gesagt zu haben, dass es jetzt auch die zu hören anfangen, die bisher ihre Ohren auf Durchgang gestellt hatten». (Der Kirchenchor 21 (1961) S.27). Zu den Texten der religiösen Schlager heisst es: «Wer gegen die Isolation angehen will, fragt, welche Musik denn heute noch gehört wird. Dabei kommt man notwendigerweise auf den Schlager. Soll man also Kirchenmusik im Stil des Schlagers machen, sozusagen den Schlager taufen und ihn als eine Form der geistlichen Musik einführen? Es gibt Menschen, die auf diese Frage mit einem eindeutigen Ja antworten. Damit meine ich nicht diejenigen, die die Elemente des Jazz in die Kirchenmusik übernehmen wollen. Ich meine auch nicht diejenigen, denen an einer Textaufwertung beim Schlager gelegen ist. Ich meine die, die ernsthaft glauben, man könne die Kirchenmusik aus der Isolierung befreien, indem man sich auf das Niveau des Schlagers begibt und die textlichen und musikalischen Aussageformen desselben für die Kirchenmusik übernehmen will». (ebd.). 

Die Kritiker

In die hitzige Diskussion schaltete sich selbst die renommierte Wochenzeitschrift «Die Zeit» ein. Es wurde ein tief reichender Niveauverlust befürchtet und man bezweifelte, dass mit «leichter Musik» die missionarische Aufgabe des Evangeliums erfüllt werden könne: «Die Gefahren, die unsere Gegenwart für Geist und Seele in so reichem Masse parat hat, werden nicht bezwungen, indem man sich nach unten anpasst und in die Plattheit ausweicht.» (in: «Die Zeit» 37/1963, S.38). Obwohl in einem der Liederhefte des Bosse-Verlags ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass es bei den Tutzinger Liedern nicht darum ginge, dass jemand «mit diesen Liedern geködert» werde, konnte der falsche Eindruck entstehen, hier ging es um nichts anderes als um Bauernfängerei: «Niemand würde opponieren, wenn man für den Zweck, die Jugend der Kirche näher zu bringen, Jazz und moderne Lieder einführte, die aus der Kraft echter Überzeugung entstanden sind und nicht den Charakter einer niveaulosen Gebrauchsmusik und -dichtung haben».(ebd.) Selbst die hier noch in Ansätzen getroffene Unterscheidung zwischen Jazz und Gebrauchsmusik blieb in der folgenden Welle von Leserzuschriften an «Die Zeit» weitgehend unberücksichtigt!

In den folgenden Jahren wurde das Tutzinger Preisausschreiben weiter durchgeführt und allmählich zu einer eigenen Institution. So beteiligten sich beim zweiten Wettbewerb etwa 220 Bewerber, von deren 800 Produktionen nur 10 Prozent in die engere Auswahl zugelassen wurden. Fast alle preisgekrönten Lieder wurden verlegt oder erschienen auf Schallplatten.

Tutzing über sich selber

Der Widerstreit von Lob und Kritik intensivierte sich nach dem Lied «Danke», das im Wettbewerb der Evangelischen Akademie Tutzing den ersten Preis bekam. Die Tutzinger Protagonisten versuchten ihre Erfolge etwas herunterzuspielen: Es handle sich um Versuche. Das möge jeder bedenken, der keinen Gefallen daran findet. Wer die Lieder gerne hört oder singt, sollte sie aus dem gleichen Grund nicht überschätzen. Ihr möglicher Wert liege letztlich nicht in publikumswirksamer Aufmachung und Interpretation, so sehr das zur Einführung helfen könne, sondern in ihrer inhaltlichen Aussage und praktischen Brauchbarkeit. Zu warnen sei vor einigen Vorurteilen, die jede Offenheit und sachliche Diskussion verhindern könne. Einige davon seien unbegründete Urteile wie: «Das passt doch nicht zusammen …, Das hat kein Niveau …, Vielleicht bei den Negern, aber nicht bei uns …, Das ist nicht von Dauer …, Das sind Schnulzen». Wer damit im Namen des Glaubens zu denken aufhört, sei an die eigentlichen Fragen noch gar nicht herangekommen. Mancher wolle auch in seinem abfälligen Urteil nur seinen besseren Geschmack oder − noch schlimmer − seine religiöse Erhabenheit geniessen. Der Reichtum seiner Bildung und Frömmigkeit könne ihm zum Verhängnis werden, wenn er andere Formen des Glaubens verachte.

Für manche haben die Versuche, Glauben auch anders als mit althergebrachten Worten auszusagen, befreiend gewirkt. Sicher muss man ihnen zugestehen, versucht zu haben, dass neben der Pflege traditionsreicher und bewährter Kirchenmusik auch zeitgenössischen Mitteln und Ausdrucksformen im Gottesdienst Raum zu geben wäre.                                                                          

Walter Wiesli

 




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