KG-Psalmodie
Der Psalm (griech. ψαλμοί = Lieder zur Harfe) macht das Grundverständnis deutlich: Es handelt sich nicht um Prosatexte, sondern um religiöse Lyrik, die zum Singen gedacht und von Musik, Gebärden und Tanz begleitet wurde. So war die Psalmodie durch die Jahrhunderte der alle Christen umfassende Gesangsschatz. Die Sprache der Psalmen ruft nicht nur im Gebet nach Gesang und Musik, der Psalm wurde auch in der abendländischen Kultur zu einer bevorzugten Musikgattung.
Psalmodieren
Das Psalmodieren in den acht (neun) traditionellen Psalmtönen (Psalmton) ist eine völlig andere musikalische Welt, als wir sie vom Lied kennen, – so verschieden wie gereimte Gedichte von Psalmversen es eben sind. In jeder Zeile ist eine meditativ-kreisende Bewegung des Betens anzutreffen. Der erste Versteil spricht einen Gedanken aus, der zweite wiederholt ihn oder führt ihn weiter (Parallelismus). Der musikalische Träger dieser Gebetsform, das Psalmrezitativ (Ténor), will dieser Wellenbewegung klanglichen Ausdruck geben. Für die beiden «Wellenschläge» jedes Psalmverses hat das Rezitativ je eigene Strukturelemente: Der erste Teil hebt an mit der Eingangsformel (Initium) und führt zur Mittelkadenz (Mediatio, gekennzeichnet mit einem Asteriscus*) und die folgende Hälfte schliesst mit der jeweils charakteristischen Schlusskadenz (Finalis). Die Melodie verströmt sich wie der menschliche Atem: Man holt Atem und lässt ihn klingend los im ersten Halbvers; dann erneuert sich der Atem in einer ruhigen Pause, wobei das eben Gesungene vom Ohr ins Herz sinken kann, um dann in den zweiten Halbvers hinüberzuschwingen. Der nächste Psalmvers wird von einer zweiten Singgruppe ohne Pause übernommen: Das Lob strömt unverzüglich weiter. Ist der erste Halbvers etwas länger, so wird er mit einer melodischen Beuge (Flexa) nochmals unterteilt, die aber das Strömen des Melodieflusses nicht aufhält. Die Eingangsformel (Initium) wird nur beim ersten Vers gesungen (ausser bei den Cantica), sie gibt gleich zu Beginn den melodischen Rahmen. Dieser Rahmen wird mit einer römischen Zahl am Anfang der Notenlinie vermerkt. Eine IV meint also beispielsweise den vierten Psalmton. Am Anfang wird man sich etwas ungelenk durch die melodischen Formeln und Verse tasten. Später, mit etwas mehr Übung, lässt man sich ganz vom natürlichen Sprechen inspiriert durch die einfachen meditativen Tonräume tragen, dann strömt Welle auf Welle. Eine wichtige Meditationshilfe ist der Leitvers. Er gibt ein «Verständnisgeleit» durch den Psalm, eine Hilfe, einen Psalm unter einem ganz bestimmten Aspekt zu beten und zu meditieren.
Psalmtöne
Unter Psalmtönen verstehen wir das Formelmaterial, womit das Psalmrezitativ (Ténor) strukturiert wurde (Inizium, Mediante, Finalis). Ob die Christengemeinden dazu jüdische Modelle vorgefunden haben, wissen wir nicht genau. Sicher ist, dass die Psalmlesung kantillierend (Kantillation) vorgetragen wurde. In der westlichen Kirche lässt sich schon früh das System der acht resp. neun «Psalmtöne» Modi) nachweisen. Wir finden es erstmals in fränkischen Quellen des 9. Jahrhunderts. Was aus den handschriftlichen Zeugnissen hervorgeht, ist dies: Es gibt um das Jahr 1000 bereits eine Vielfalt psalmodischer Formen: Von der einfachen Kantillation bis zur anspruchsvollen Vorsängerpsalmodie (Graduale), von schlichten responsorialen Formen bis zur durchkomponierten Grossform (Tractus).
Psalmenvortrag
Bezüglich der Vortragsart unterscheiden wir:
Direkter Vortrag (Psalmus in directum): Durchgehender Vortrag ohne Umrahmung oder Gliederung durch einen Leitvers. Beispiel: Der Tractus (in der Fastenzeit anstelle des Alleluja)
Responsorialer Vortrag: Vortrag Vers für Vers; nach jedem Vers bzw. nach Versgruppen antwortet (respondiert) die Gemeinde mit einem gleich bleibenden Leitvers (Responsum). Beispiel: Antwortpsalm im Wortgottesdienst
Antiphonarischer Vortrag: Psalmvortrag durch zwei Gruppen (Chor/Gemeinde; Kantor/Schola). Vers für Vers wird abwechselnd gesungen, eingeleitet, abgeschlossen, gelegentlich unterbrochen durch die gemeinsam gesungene Antiphon (Rahmen- oder Leitvers). Beispiel: Die Psalmodie der Stundenliturgie.
Tenorale Psalmodie
Die meisten deutschsprachigen Psallierweisen halten sich in irgendeiner Weise an ein tenorales Modell, d. h. dem hebräischen Bauprinzip des «Parallelismus der Verszeilen» folgend rezitieren sie den Text der Halbverse auf einem Rezitationston (Ténor). Es ist rund ein Dutzend deutschsprachiger Psallierweisen bekannt, die in irgendeiner Weise ein tenorales Modell verwenden. Im KG wie in andern Gesangbüchern werden für die Gemeindepsalmodie die neun traditionellen Psalmtöne verwendet. Der Psalmton wird über dem Psalm angegeben. Der Ténor wird strukturiert durch das Initium (Eingangsformel), die Mediante (Mittelformel) und die Finalis (Schlussformel).Nicht-tenorale Psalmodie
Aus der traditionellen Psalmodie entwickelten sich weitere Formen, die das tenorale Prinzip auf mehrere Rezitationsebenen oder mit aufwendigerem Formelmaterial und freieren Rezitativen ausweiten. Damit besteht die Möglichkeit, Schwächen der traditionellen Psalmodie zu glätten, die gelegentlich mit Kadenzen oder akzentsperrigen Formeln in Konflikt kommt. In diese Richtung geht das Münchener Kantorale (1991–1995), aus dem das Cantionale in der Singweise II 39 Antwortpsalmen übernommen hat. Die Herkunft und Verwandtschaft mit der traditionellen Psalmodie ist in mehreren Modellen offensichtlich, andere Vertonungen geben sich melodiefreudig und erweitern die musikalischen Mittel zugunsten einer stärkeren Textnähe.
KGB-Psalmodie (1966)
Um für nicht-tenorale Psallierweisen überhaupt Modelle verwenden zu können, muss der Text nach bestimmten Regeln aufbereitet werden: Alle Kadenzen müssen entweder schwer oder leicht sein und zwischen den Hebungen darf es nur eine bestimmte Anzahl von Senkungen geben. Eine solche Textbearbeitung macht es möglich, die Sinnakzente in jeder Strophe an der gleichen Stelle zu platzieren. Diese gute, aber auch anspruchsvolle Lösung verwirklicht die KGB-Psalmodie (1966). Die Übersetzung nach dem hebräischen Text schuf Prof. Eugen Ruckstuhl; die von Prof. Franz Brenn entwickelten Prinzipien verwirklichte musikalisch Bruno Zahner als offene Stufenpsalmodie. 29 dieser in der Schweiz sehr geschätzten Psalmen- wie 10 stilistisch ähnliche Cantica-Vertonung fanden wieder Eingang ins Cantionale. Eine akkordisch diskrete Orgelbegleitung dazu schuf Daniel Maier OSB 1998 im Orgelband II.Falsobordone-Psalmodie
Falsobordone-Psalmodie (vom franz. «Fauxbourdon») ist das versweise Alternieren zwischen Einstimmigkeit und Mehrstimmigkeit, eine Technik italienischer Komponisten des 15. und 16. Jh. Die Trennung von Choralschola und Figuralchor erlaubte überraschungsreiche Raumeffekte und macht u. a. auch die Teilnahme der Gemeinde möglich. Die ungeraden Verse werden von der Gemeinde oder von einer Schola in den traditionellen Psalmtönen gesungen, der Chor gestaltet mehrstimmig die geraden Verse. Als vierte Singweise bringt das Cantionale 13 Falsobordone-Sätze von Cesare de Zaccaria (vor 1590), deren Satzbearbeitung und Textunterlegung Prof.Matthias Kreuels besorgte. Im Freiburger Chorbuch (Rechte Carus-Verlag Stuttgart 1994) weist er auf eine erweiterte Verwendung hin: Alle Modelle sind so angelegt, dass sie auf andere Texte übertragen werden können. Dabei sollte der Psalmton sorgfältig gewählt werden, damit Text und Modus eine Einheit bilden.Psalmen im Cantionale
Bezüglich der Antwortpsalmen beschränkt sich das Cantionale – auch mit Rücksicht auf die Ausführenden – auf das sog. Commune des Sonntagslektionars, das für das ganze Kirchenjahr 23 Antwortpsalmen und 16 Rufe zum Evangelium bereitstellt. Jeder dieser Psalmen verfügt über zwei Singweisen.
Die erste, einfachere Singweise beruht auf der bekannten traditionellen Psalmodie des KG. Sie ist bekannt aus dem Tagzeitengebet (Laudes, Vesper, Komplet) und genügt vollauf der Funktion dieses Gesangs. Wer sich in dieser Singweise Sicherheit erworben hat, wird sich allmählich auch in der zweiten, etwas anspruchsvolleren Singweise zurechtfinden.
Die zweite Singweise stammt aus dem «Münchener Kantorale» (Planegg (promultis) 1991/92, Rechte: Christophorus im Herderverlag, Freiburg i. Br.). Den Vertonungen liegen modale Tonmodelle zugrunde, die sich teilweise eng an das Formelmaterial der traditionellen Psalmodie anlehnen. Der freie Umgang mit einer Mehrzahl von tenoralen Ebenen, Motiven und Binnenkadenzen erlaubt eine sensiblere Sprachbehandlung, als dies der traditionellen Psalmodie möglich ist. Die Versschlüsse sind nicht selten ohne Kadenzwirkung (Schlusswirkung), um den nachfolgenden Leitvers angemessen ins musikalische Geschehen als integrales musikalisches Element einzubeziehen.
In manchen Fällen wird eine dritte Singweise mit der bereits erwähnten KGB-Psalmodie möglich. Der Leitvers ist dann dem KG zu entnehmen, der Psalm findet sich im Cantionale (S. 151–199). Diese Psalmübertragung von Prof. Eugen Ruckstuhl, Luzern, berücksichtigt in allen Versen eines Psalmes gleiche Sprachrhythmen und Sinnakzente, was einen optimalen Wort–Ton-Zusammenhang ermöglicht.
Bei besonderen Anlässen mag auch einmal ein Wechsel zwischen dem Psalmisten und einer mehrstimmigen Chorpsalmodie angezeigt sein. Das Cantionale stellt dazu 13 «Falsobordone-Sätze» nach Cesare da Zacharia (vor 1590) zur Verfügung.
Walter Wiesli