Katholisches Gesangbuch

Lied ist Verkündigung   

Kirchenlied als Verkündigung?

Die Frage nach dem Verkündigungscharakter des Kirchenliedes ist zunächst eine typische Fragestellung der Reformationskirchen. Sie wird mehrheitlich, sogar entschieden bejaht von der lutherischen Theologie, die in ihrer Inkarnationstheologie die Einheit von Wort und Musik, von göttlicher und irdischer Natur des Wortes Gottes betont. Im Lied geht es Luther wesentlich darum, «das heilige Evangelion ...zu treiben und in Schwang zu bringen.» (Aus Luthers Vorrede zum Wittenberger Geistlichen Gesangbüchlein 1524). Das Lied hat die Aufgabe, das Wort Gottes dem Volk einzuprägen und es lebendig zu erhalten. So wird der Gemeindegesang zu einem konstituierenden Bestandteil des Gottesdienstes, in welchem die Gemeinde ein liturgisches, wenngleich auch ihr einziges Amt übernimmt. Die kerygmatische Grundintention wird vor allem in Luthers Katechismusliedern deutlich.

Von dieser Position setzt sich die dialektische Theologie entschieden ab. Verkündigungscharakter kommt einzig und allein dem Wort Gottes zu. Die Musik ist lediglich ein Vehikel für das Wort. Offenbar steht hinter der schroffen Ablehnung des Verkündigungsauftrags der Musik die Sorge, die Musik könnte die Herrschaft über das Wort gewinnen und die Grösse und Jenseitigkeit Gottes und seines Wortes konkurrenzieren. Eine Fragestellung dieser Art ist der katholischen Liturgie fremd. Sie sieht alle Elemente des Gottesdienstes viel mehr auf der sakramentalen Zeichenebene. «Gesang ist weder blosse Zusammenfügung von Musik und Text noch zufälliges Aufeinandertreffen von reiner Musik und reiner Poesie. Er ist eine menschliche Urgeste, mit der Wörter und Töne eins werden. Im Gesang ist der Text Bedeutungsträger unter Verwendung des Mediums Musik; andererseits unterstreicht die Musik die Bedeutung des Ausgesagten und verleiht ihm eine deutlichere Gewichtung. Mit Hilfe des Wortes vermag die Musik dem Gott Jesu Christi einen ’Namen’ zu geben; durch die Musik jedoch versucht die menschliche Stimme, das Unsagbare zu sagen.» (Dokument der Universa Laus 1980, in: Kath.Kirchenmusik 105 (1980) 190) Die Einwohnung des Wortes Christi bewirkt sowohl das Singen der Gemeinde (Kol 3,16) wie auch umgekehrt: Das Lehren, Mahnen und Singen der Gemeinde wird zum Anlass und Ereignis der Einwohnung des Wortes, ̶  wenn man die beiden Partizipien in Kol 3,16 instrumental interpretiert.

Das Kirchenlied als Predigtlied

Martin Luthers Vorstoss zur Deutschen Messe veranlasste die Katholiken zunächst zu einer Gegenreaktion: Der Status quo wird festgeschrieben: Es gibt weiterhin keine eigentlichen volkssprachlichen Liturgiegesänge. Die Predigt unterlag allerdings den Regeln der lateinischen Kultsprache nicht. Damit entstand eine reiche volkssprachliche Singkultur rund um die Predigt. So wundert es nicht, dass das erste katholische Gesangbüchlein von Vehe (1537) nur Predigt- und Prozessionslieder anbietet. Auch das bedeutend umfangreichere Gesangbuch von Leisentrit (1567) enthält kein einziges liturgisches Messlied. Offensichtlich beeindruckt durch die Wirkung der evangelischen Lieder und wohl auch auf  Druck katholischer Gemeinden stellte es Leisentrit seinem Pfarrklerus frei, Teile der lateinischen Messliturgie durch deutsche Lieder zu ersetzen: « ...nit allein vor und nach der Predigt, Sondern auch an stat des Patrem oder Offertorii auch des Commun ... » (Vorrede zu Geistliche Lieder und Psalmen 1567). Leisentrits grosszügiges Denken, das sich übrigens auch in der Aufnahme vieler evangelischer Lieder zeigte, hatte angesichts der bald sich verschärfenden konfessionellen Abgrenzungstendenzen keine Chance. In der nachtridentinischen Reform musste jede Annäherung an die evangelische Kirche wie eine nachträgliche Rechtfertigung der Reformation wirken. Das Konzil festigte die Klerusliturgie und mit ihr die lateinische Kultsprache. Die religiösen Aktivitäten der Laien verlegten sich auf paraliturgische Gottesdienstformen wie Andachten, Prozessionen und Wallfahrten. Die tridentinische Frömmigkeit konzentrierte ihr Reformbemühen vor allem auf Belehrung, Festigung im Glauben und Erziehung zur Tugend. Der lehrhafte Ton ist charakteristisch für alle neuen Liedtexte dieser Zeit.

Das Kirchenlied als katechetisches Zugpferd

Das nachtridentinische Kirchenlied wird von den Jesuiten mit Nachdruck gefördert. Im Zuge der Reorganisation der im Argen liegenden Pfarrseelsorge und der Neuordnung des gesamten Schul- und Erziehungswesens schuf der neue Orden dafür die institutionellen Voraussetzungen. Es gibt kaum eine bedeutsame Kirchenliedsammlung, die nicht von den Jesuiten herausgegeben wurde oder irgend einen Zusammenhang mit ihnen hat. Dabei nimmt vor allem Petrus Canisius eine massgebliche Schlüsselrolle ein. Die bis zu seinem Tod (1597) 200mal aufgelegten Katechismen werden immer auch zu Förderern und Verbreitern des Kirchenlieds. Das Geistliche Psälterlein (1637), eine Verbindung von Gesangbuch und «Kleinem Canisius», wird zum grössten Verkaufserfolg des 17. Jahrhunderts. Die Nachfrage war so gross, dass sogar Raubdrucke entstanden: «viele falsche Nachtrukken, und zwarn an uncatholischen Oertern» (Vorrede zum Psälterlein, Ausgabe 1701). Der ausserliturgische, auf Katechismusunterricht und Volksmission abzielende Liedgesang der Jesuiten wirkte nach bis weit hinein ins 18. Jahrhundert. Unter dem Eindruck evangelischer Singpraxis versuchten vereinzelt auch jesuitische Gesangbücher das Lied in die Liturgie hereinzutragen. «Viele leyen», so vermerkt das Mainzer Cantual von 1605, hätten «jetzo grössere Lust bey dem Gottesdienst zu singen», anstatt schweigend das Leiden Christi zu betrachten oder den Rosenkranz zu beten. (W. Bäumker, Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen, I 198ff., aus: A. Heinz, Die Jesuiten als Förderer deutscher Messlieder, LJ 35 (1985) 158). Nationalkirchliche Strömungen in der Aufklärung förderten den deutschen Liedgesang in der Liturgie, so dass mehrere Diözesen nach 1780 sogar nachdrücklich dafür eintraten (Salzburg 1782, Paderborn 1785, Mainz 1788). Jedoch gelang es der deutschen Messliturgie nicht, sich durchzusetzen. Abgesehen von ein paar Sondergenehmigungen für Deutschland, Polen, Jugoslawien und mehrere Missionsgebiete bleibt die Verpflichtung für die lateinische Kultsprache in Kraft bis 1964.

Das Kirchenlied nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil

Mit der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils tritt eine grundsätzliche Wende ein: Das Kirchenlied darf den Anspruch erheben, «pars integralis», integrierender Bestandteil der Liturgie zu sein (SC 112). Ob sich alle Konzilsväter aufgrund der doch eher zurückhaltend und vorsichtig formulierten Artikeln 54 und 113 in der Messfeier einen derart raschen und radikalen Durchbruch des muttersprachlichen Singens gewünscht haben, mag bezweifelt werden. Praktisch gaben jedoch alle zuständigen Bischofskonferenzen anlässlich der Herausgabe neuer Gesangbücher deren ganzen Inhalt zum liturgischen Gebrauch frei: 1966 war dies das Schweizer KGB, 1975 das deutsche Gotteslob und 1998 das Schweizer KG.

Will man das Lied als Botschaft verstehen, muss auch davon die Rede sein, ob und wie sie ankommt. In welches Umfeld hinein wird sie vermittelt und wie ist es um diese selber bestellt? Bereits vor dem Vatikanum II gaben die Schweizer Bischöfe anlässlich der Synode 85 im Blick auf die Weitergabe des Glaubens dazu einen ziemlich desillusionierenden Kommentar: «Auf der ganzen Erde sind heute die Weitergabe des Glaubens und die aus dem Evangelium erfliessenden moralischen Werte an kommende Generationen in Gefahr. » Umbrüche säkularen Ausmasses veränderten schon damals die Gesellschaft. Tradierte Selbstverständlichkeiten wurden in Frage gestellt, eine Vielfalt von Sinndeutungen und Weltanschauungen konkurrenzierten sich. Der/die Einzelne musste sich in einer Vielfalt von Wertangeboten und Verhaltensmustern zurechtfinden. Eine immens plurale Welt zwang zum Aussuchen und Auswählen, ein Zwang, dem sich auch Christen nicht  entziehen konnten. Als Folge davon sah Hubertus Halbfas bereits vor 40 Jahren  «die Unkirchlichkeit der Jugend» als ein Charakteristikum der heranwachsenden Generation (Kirche und Jugend, in Katechet.Blätter 1970, 274ff.). In einer realitätsbezogenen Pastoral fragt man sich deshalb zurecht, welche kerygmatische Bedeutung das Kirchenlied noch haben kann.

Eine Bresche für die Ökumene

Es mag sich sehr unbescheiden ausnehmen, wenn behauptet wird, in der Schweiz sei das nachhaltigste ökumenischen Basisereignis der vergangenen Jahre das gemeinsame Singen von 238 Liedern, die Katholiken, Reformierte und Christkatholiken verbinden. Konkret heisst dies: Wir können erstmals seit der Reformation Gott «einträchtig und mit einem Munde» preisen (Röm 15,6). In einer mehr als 40-jährigen Arbeit hat die Arbeitsgemeinschaft für Ökumenisches Liedgut über  500 Lieder auf eine gemeinsame Fassung gebracht. Die einzelnen Kirchen sind eingeladen, sich auf diese nun gemeinsamen Fassungen einzulassen – und sie tun es in einer erstaunlichen Bereitschaft. Freilich, der Streit, wie viel alte Patina dem Kirchenlied ansteht, bleibt weiterhin offen. Insgesamt aber scheint das Bewusstsein und Verständnis, das Liedzeugnis unserer Vorfahren in deren Sprache weiterzugeben, zu wachsen.

Aufbruch der Gottesdienstformen

Obwohl die Eucharistiefeier die Mitte einer christlichen Gemeinde bleiben muss, schärfte die gegenwärtige priesterarme Versorgungslage den Blicke für andere, teilweise vergessene Gottesdienstformen wie Wortfeiern, Segensfeiern, Tagzeitengebet u.ä..  Diese riefen nach einem differenzierteren Umgang mit dem Kirchenlied und andern musikalischen Gattungen. Man wurde beispielsweise hellhöriger für das unbedachte, oft geistlose Absingen von Strophen. Bei genauem Zusehen bietet das Lied selbst schon Gestaltungsmöglichkeiten an: alternierendes Singen, (Refrain- und Kehrverslieder), eingeschobene Zwischenspiele (Inzipitkanons, Texte) und Versetten, vokale Überstimmen, Mehrstimmigkeit u.ä. Ein Aufbruch der Gottesdienstformen kann ohne pädagogische Aufsässigkeit zu einer grösseren katechetischen Effizienz führen. Jede Weise, Routine zu vermeiden, ist ein Beitrag, die Feier lebensnäher zu begehen, in den biographischen Lauf des Christen- und Gemeindelebens einzubetten und die Feier der Sakramente intensiver als Zeichen der Nähe Gottes zu erfahren. Sie erscheinen so  ̶  umgeben von einem Kranz anderer sakra-mentlicher Zeichen (wie etwa Segnungen)  ̶  weniger als einmalige rituelle Akte, sondern viel eher als je neue Zugangswege zur Gottesbegegnung und dem christlichen Miteinander. Dies ist das Grundanliegen des  «lebenstheologischen Ansatzes» des KG.

Das erdnahe neue Lied

Seit 50 Jahren spricht man zurecht von einem neuen geistlichen Lied. Es geht dabei nicht nur um das Jugendlied, inzwischen hat es auch in der Erwachsenen- und Seniorenarbeit seinen festen Platz. In der Verbreitung hingegen haben Jugendchöre und Bands ein wesentliches Verdienst. Manchenorts wurde es wie kein anderes gemeindliches Handlungsfeld zu einem Schnittpunkt von Liturgie, Diakonie und Verkündigung. Mit seiner lebensnahen Sprache und einer Musik, die im besten Sinn des Wortes zeitgemäss ist, erreicht es oft auch kirchenferne Menschen. Gerade  Gottesdienste, in denen  ̶  nicht nur junge   ̶   Menschen ihre Ängste, Fragen, Sorgen und Hoffnungen artikulieren, erfordern eine neue Liedsprache, welche solche Inhalte umzusetzten vermag. Freilich ist nicht zu übersehen, dass dies nicht allen neuen Liedern gelingt. Gerade in der  neuesten Liedproduktion ist ein fundamentalistisch-integralistischer Tenor nicht zu überhören. Viele Lieder signalisieren einen Rückzug in die religiöse Privatsphäre: Es geht ihnen um Ermutigung zum Leben, um Alltagsbewältigung, Sinnfragen, wider die Angst und Resignation. Aber gerade diese bekennerhafte, subjektiv anrührende Art scheint viele jüngere Menschen anziehen.  

Bleibende Massstäbe

Besonders im Blick auf die kerygmatische Wertigkeit von Kirchenliedern könnte ein Grundsatz der Arbeitsgemeinschaft ’UniversaLaus’ richtungweisend sein: Er orientiert sich am Ziel «den durch die Auferstehung Jesu Christi erneuerten Menschen darzustellen und zu verwirklichen. Wahrheit, Wert und Gnade messen sich weder allein an ihrer Fähigkeit, die tätige Teilnahme zu wecken, noch an ihrem kulturellen Wert, ihrer Altehrwürdigkeit oder Volkstümlichkeit, sondern daran, ob sie dem Gläubigen die Stimme verleiht, das Kyrie eleison der Unterdrückten zu rufen, das Alleluja der Erlö-sten zu singen, das Maranatha der Wartenden wach zu halten in der Hoffnung auf das kommende Reich.» (Dokument der Universa Laus 1980). Das geistliche Lied soll auch das Recht haben, Leiden beredt zu machen und Wunden nicht zu verschweigen. Es soll Schmerz in Klage umsetzen und das Recht zum Schreien haben  ̶  im Sinn von Arnold Schönberg: «Musik soll nicht schmücken, sondern wahr sein.»

Walter Wiesli




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