Katholisches Gesangbuch

Neues Lied (NGL)   

Der Ruf nach dem neuen Lied

Im Frühjahr 1992 veröffentlichten 23 deutsche Komponisten, Musiker und Texter einen offenen Brief «an alle Frauen und Männer, die in unseren Kirchen Verantwortung tragen», in dem sie fordern, dass neue geistliche Lieder nicht mehr unterdrückt werden dürften. Das Schreiben argumentiert besonders mit pastoralen Überlegungen. Es fordert, dass nach einem Gottesdienst der Pflichtübungen eine neue Gottesdienstkultur zu anzustreben  sei, wo Menschen ihre Sorgen, Fragen, Ängsten und Hoffnungen zur Sprache bringen könnten, - und eben dazu bedürfe es neuer Lieder mit neuen Inhalten. Das neue Lied entstehe oft aus einer Betroffenheit heraus, die religiöse Inhalte so aussagten, wie sie Menschen heutig formulierten, denen die kirchliche Sprache fremd sei.  Es entstehe damit eine Bewegung «vom Rand zur Mitte», - d.h. das neue Lied werde zum Anwalt der Randständigen und übernehme so die Funktion einer gesellschaftskritischen Sonde. Es sei aber auch für Insider dazu angetan, ihren Glauben zu reflektieren und ihr Engagement zu überprüfen. Aufgrund der grossen pastoralen Relevanz müsse dem neuen Lied in der theolgischen und kirchenmusikalischen Aus- und Weiterbildung eine grössere Aufmerksamkeit zuerkannt werden, als dies derzeit der Fall sei. «Es ist Zeit», schliesst das Schreiben, «dass dem auch von kirchenamtlicher Seite Rechnung getragen wird». (Gottesdienst 11/1992).

Woher kommt das NGL?

Das Schreiben spricht vom neuen Lied seit 1960. Bei der Lektüre könnte der Eindruck entstehen, es handle sich dabei um eine kompakte neue Liedgattung. Dies stimmt aber nicht. Die Liedproduktion war hinsichtlich der Technik so unbekümmert, dass eine saubere stilistische Klassifizierung praktisch unmöglich war. Auf der Suche nach neuen Liedern konnte man sich deshalb nicht auf bestimmte Themenkreise oder Gattungen konzentrieren, es blieb nichts anderes übrig, als möglichst viele neue Liedsammlungen systematisch zu studieren und gute Lieder verschiedenster Gattungen und Inhalte herauszupicken. Dies ist dann in den KG-RG-Kommissionen auch geschehen: Es wurden tausende Lieder gesichtet  (in der reformierten Kommission dürften es ungefähr 12’000 gewesen sein), um was immer gut oder brauchbar erschien, einer nochmaligen Prüfung zu unterziehen. Dabei erstaunt fürs Erste die Fülle an Neukompositionen. Allein in den christlichen Freikirchen erschienen  in den Jahren zwischen 1960 – 2000  um die 50 neue Liederbücher gemäss Aussage des freikirchlichen Hymnologen Günter Balders. Daneben gibt es eine riesige Menge kleinerer Produktionen von Kirchentagen, Diözesen, Gemeinden, charismatischen Kreisen, Jugendverbänden, Frauengruppen, Musikverlagen usw.

Neue Lieder und ihre Folgen

Die Fülle und die Inhalte dieser neuen Lieder spiegeln die enormen gesellschaftlichen Umbrüche der letzten dreissig Jahre. Sie sind gekennzeichnet durch zunehmend differenziertere und autonome Teilsysteme in Familie, Bildung, Recht usw. Jede und jeder ist eingebunden in mehrere dieser eigendynamischen Systeme, welche alle ihre eigenen Weltsichten, Grundthematiken, Symbolvorräte, und Deutungsmuster entwickeln. [Vgl. A.Dubach, Jeder ein Sonderfall, Religion in der Schweiz, Zürich 1993].

Die Religion sieht sich von vielen andern Deutungsmustern und Sinnangeboten konkurrenziert. Es gibt in dieser Gesellschaft keine gemeinsam geteilte Sinn- und Wirklichkeitsdeutung mehr. Eine Hauptquelle für religiöse Deutungsmuster war damals in der Schweiz immer noch das Christentum; die Orientierung verschiebt sich aber von der kirchlich institutionalisierten zur privaten Religiosität. Der Zwang zur Selbstentscheidung und eigenen Identitätsfindung führt fast zwangsläufig zu einer Psychologisierung der religiöser Erfahrung. Dies erklärt vermutlich, weshalb sich eine grosse Zahl von Liedtexten die Sinnfrage, den Weg nach innen, den Bedarf  nach Meditation thematisieren. Die Sinnfrage ist eine wichtige religiöse Fragestellung, sie führt aber in dieser einseitigen Betonung in eine Engführung, welche zentrale christliche Themen ausblendet. (Wir hatten beispielsweise Mühe, gute Oster- und Pfingstlieder zu finden.) In diesem Zusammenhang wird das Verhältnis zu Religion und Kirche vorwiegend pragmatisch bestimmt, was sich im Blick auf den lebenspraktischen Nutzen auch unverkennbar im NGL niederschlug.

Aufs Ganze darf man aus der Rückschau trotzdem feststellen, dass der zunehmende Pluralismus der Überzeugungen  nicht aus billigem Relativismus erfolgte, sondern der Ökumene neue Perspektiven geöffnet hat. Gemeinsame Anliegen, Betroffenheit, Problemlagen, die gleichen Auffassungen dessen, was Christsein ausmacht, worin es verbindlich zum Ausdruck kommt, verbindet über das NGL in der Tat Menschen über die Konfessionen hinweg. Quer durch die Konfessionen hindurch formieren sich Gruppen zu gemeinsamem Feiern und Handeln, - unabhängig von unterschiedlichen Organisations- und Kommunikationsformen, Verbindlichkeiten und Stabilitätsansprüchen. Die Zusammenarbeit der beiden Gesangbuchkommissionen KG und RG ist dafür ein konkretes und ermutigendes Beispiel.

Neue Lieder für wen?

Wir sitzen im gleichen Boot KG 205Wir sitzen im gleichen Boot KG 205
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Die individualisierte und pluriforme Struktur unserer Gesellschaft, auf deren Humus die neuen Lieder wachsen, erklärt zumindest ein Stück weit die Breite und Unterschiedlichkeit neuer Lieder. Und damit ist auch bereits halbwegs die Frage beantwortet, für wen diese Lieder gut sein sollen. Wenn nicht eine Nachfrage danach bestünde, gäbe es sie nicht. Aber wie gesagt, die Verbraucher sind so pluriform wie die Gesellschaft, der sie angehören. Dabei sind es nicht nur Jugendliche, die nach diesem Lied fragen oder es pflegen. Das Bedürfnis, eine religiöse Sprache zu finden, die unserer Zeit standhält, geht durch alle Schichten. Linus David bringt diesen Anspruch sehr ausgeprägt zur Geltung (155, 156, 250, 565). Daraus ergibt sich zwangsläufig: So vielfältig wie unsere Gottesdienstgemeinde wird oder muss auch unser Liedangebot sein. Darum gibt es beispielsweise das neue Gemeindelied in der herben Strenge eines Rolf Schweizer, Manfred Schlenker, Friedemann Gottschick, Erna Woll und Johannes Petzold, eingängige Melodien von Herbert Beuerle oder Paul Ernst Ruppel, jazznahe Songs von Oskar Gottlieb Blarr, popinspirierte Melodien von Peter Janssens, Wohlklang aus Taizé, Lieder in Anlehnung an den Zeitgeschmack bei Jo Akepsimas oder Winfried Heurich, Lieder aus der Ökumene weltweit (aus Skandinavien, Niederlanden usw). Es gibt die Klangseligkeit vieler neuer Kanons oder die angebliche rhythmische Widerborstigkeit einiger neuer Lieder, die manche heute schon totsagen. Wer will, mag unser Angebot an neuen Liedern ein Sammelsurium an Stilen und Qualitätsansprüchen nennen. Dem kann man eigentlich nicht widersprechen.


Qualitätsansprüche an das neue Lied

Während man sich bezüglich der Qualitätsansprüche im traditionellen Kirchenliedes relativ leicht einigen kann, ist dies auf dem Gebiet des NGL um einiges schwieriger. Ein für alle Lieder geltendes Kriterium ist «die innere Stimmigkeit». Aber gerade sie lässt sich zweifellos nur mit gattungseigenen Kriterien ausmachen. Im Klartext heisst dies: Man muss auch den Abkömmlingen der U-Musik (Schlager, Popmusik, Jazz, Folklore) gattungsspezifische Qualitätskriterien zugestehen. Was uns beispielsweise für das pietistische oder romantische Lied recht ist, müsste uns auch für das neue Lied billig sein!  Sicher begeben wir uns damit auf eine musikästhetischen Plattform, wo ein Konsens schwieriger wird. In Grenzfällen kann man sich beidseits mit guten Argumenten streiten, - wobei dann meistens das Gewicht der musikalischen oder pastoralen Option den Ausschlag gibt. Ehrlicherweise müsste man aber auch einräumen, dass es in dieser Diskussion öfters an Sachkompetenz fehlt, sowohl auf Seiten der Seelsorger wie der Kirchenmusiker. Jürgen Tillmanns schreibt im Buch «Singen, um gehört zu werden» dazu: «Die meisten Kirchenmusiker sind zu diesem Gespräch nicht fähig. Wenige geben es zu. Die Mehrzahl verschanzt sich hinter pauschalisierenden Werturteilen, mit denen diese Musik im Vergleich zur «musica sacra» abqualifiziert wird.» [Jürgen Tillmanns, Singen, um gehört zu werden, S.54, Wuppertal 1976]. Dieses pauschale Urteil dürfte so heute nicht mehr zutreffen. Im Übrigen sind die Überlebenschancen des NGL kaum kalkulierbar. So wurde 1961 M.G.Schneiders «Danke für diesen guten Morgen» wurde als Eintagsfliege abqualifiziert  ̶  und erscheint dann 1998 frischfröhlich wieder im RG (Nr.579). Wenn 5% der neuen Lieder der letzten zwanzig Jahre für weitere zwanzig  Jahre taugen, können sie mit gutem Recht als rezipiert gelten. Die Frage, ob es im Gottesdienst nicht auch Gebrauchs- oder Verbrauchsmusik geben dürfe, darf gestellt werden. Der überrissene und übrigens durch die Tradition nicht abzudeckende Anspruch, alle Musik im Gottesdienst müsse dem Anspruch «Kunst» gerecht werden, wird leicht zum bequemen Alibi, Unliebsames im vornherein vom Tisch zu wischen.

Neu neben alt

Es wird gesagt, neue Texte entlarvten die Problematik oder gar Verlogenheit alter Lieder. Was wir da alles sängen, ohne rot zu werden, oder ohne zu lachen! Dieses delikate Problem in ein paar Sätzen abzuhandeln, ist nicht möglich. Im Blick auf das KG dürfen wir beanspruchen, dass problematische Texte eliminiert wurden: Triumphalistische Texte, kriegerische Texte, frauenfeindliche Äusserungen usw. Dennoch bleibt ein Rest von unbestritten hoher Dichtung  (Luther, Gerhardt, Spee, Scheffler u.a.), deren Sprache sich in Inhalt und Gestalt einem zeitgenössischen Beten quer legt. Ein Professor der Theologie sagte mir, wir schuldeten es der Redlichkeit, dass wir solche Lieder eliminierten, Kunst hin oder her.

Aus tiefer Not, Str.4 und Kommentar KG 384Aus tiefer Not, Str.4 und Kommentar KG 384
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Dem gegenüber ist eine Mehrheit der Meinung, dass wir unsere Wurzeln im Glauben nicht verleugnen können. Wäre der Glaube uns nicht tradiert, hätten wir ihn nicht. Die Offenbarung ist eine Geschichte im eigentlichen Sinn, - mit allem, was Geschichte eben beinhaltet. Im Buch der Psalmen beispielsweise lässt sich nachweisen, wie der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod sich erst allmählich entfaltet (Ps 88.6 - 49;73) und bei Johannes ist die Rede von einer erst allmählichen Einführung des Geistes in die ganze Wahrheit (16,13). Offenbarung ist ein geschichtlicher Prozess bis auf den heutigen Tag.

 

All dies wird im Gottesdienst immer wieder vergegenwärtigt, weitererzählt, weitergesponnen. Es geht im Christentum wesentlich um das Wachhalten der Erinnerung, vorab jene an Jesus Christus, - um jene Geschichte, auf die er sich berufen hat und jene, die im Durchbruch des Reiches Gottes allmählich Gestalt gewinnt. Sein Geist hinterlässt im Verlauf der Zeit gewissermassen eine «Tonspur», auf der sich ein immenser Reichtum an religiöser Erfahrung und spiritueller Praxis niederschlägt, der für das Wachstum des Einzelnen wie der Gesamtkirche zum unverzichtbarer Schatz wird. Alte Lieder in diesem Kontext gesungen, laufen nicht Gefahr (zumindest empfinde ich es so) von Tagesaktualitäten und Statistiken Lügen gestraft zu werden. Mitten in einer Welt von Kriegen, Leid und Katastrophen muss die Aussage bestehen können: «Verschlungen ist der Tod im Sieg». (1 Korr,15,54). Ein Gleiches gilt von andern Aussagen, die erst für den definitiven Anbruch des Reiches Gottes verheissen sind. Im Übrigen, meine ich, muss es auch möglich sein, dass ein Kinderlied noch etwas von der Unbeschwertheit, Verspieltheit und dem Optimismus einer kindlichen Weltsicht in sich hat, die noch nicht die ganze Härte der Realität in den Blick bekommt (KG 581, 582).

                                                                                                                                  Walter Wiesli




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