Katholisches Gesangbuch

Gebetskultur heute   

Gebetskultur in der christlichen Gemeinde

In einem seiner letzten Interviews befragt, wie er sich ange­sichts der allgemeinen Glaubensnot die Kirche der Zukunft vorstelle, gab Karl Rahner zur Antwort: «Ich möchte und wünsche und erwarte eine Kirche von einer ausserordent­lich starken Spiritualität, einer stärkeren Frömmigkeit, eine Kirche des Gebetes, eine Kirche, die Gott die Ehre gibt und die nicht meint, Gott ist für uns da, sondern davon über­zeugt ist, dass wir Gott anzubeten haben, dass wir ihn um seiner selbst willen und nicht nur um unseretwillen zu lieben haben». Lapidare Forderungen: Ausserordentliche Spiritualität - stärkere Frömmigkeit - eine Kirche des Gebetes. Entspricht die Kirche diesen Anforderungen?

Versuch einer Diagnose

Die Krise der Kirche sei im Wesentlichen eine geistliche, hat Rahner bereits früher festgestellt.  Der Glaube selbst ist bei vielen Gläubigen aus dem Tritt geraten und darum notwendigerweise auch das Gebet. Denn wer betet, drückt seinen Glauben aus und bringt das Leben zur Sprache vor Gott. Beten ist so etwas wie der Atem des Glaubens: «Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete» singen wir in KG 544.

  • Beten  ̶  ein Wesensvollzug der Kirche

Die Kirche war von Anfang an nur als betende Kirche richtig zu verstehen. Denn im Gebet vollzieht sie ihr innerstes Wesen. An ihrem Gebet ist ablesbar, wem und was sie glaubt. In  ihrem Beten bringt sie zum Ausdruck, dass sie sich radikal verdankt, d.h. ganz und gar aus Gottes freier Gnade in Christus und nicht aus eigener Kraft lebt. Kirche, die nicht aufhört, Gott zu loben und ihm zu danken, bringt eben dieses ihr «euchari­stisches» Wesen laut und öffentlich vor Gott und der Welt zur Sprache.

Hier zeigt sich die ganze Dringlichkeit des Problems: Sind un­sere Gemeinden Lern- und Übungsorte solch kirchlichen Be­tens? Kann man in ihnen das Beten mit der Kirche von Grund auf lernen? Was geschieht, damit diese elementarste Lebensäusserung des Glaubens  ̶  anbeten, loben, danken und rühmen   ̶  ins Spiel gebracht wird? Wo lernt man, dass sich aus solchem Rühmen Gottes das rechte Bitten und Fürbitten wie von selbst ergibt? Wie steht es um das Klagen der Christen vor Gott, das dem bi­blischen Beter so wesentlich ist? Ob Lob oder Klage, beides hat für den heutigen Menschen auch eine therapeutische Funktion: sie bringen ihn weg von sich selbst, machen ihn frei für das Gemeinschaft der Mitlobenden und Mitklagen­den und öffnen ihn mit diesen zusammen für den, den wir letztlich meinen, für Gott. Ist die Gemeinde so etwas wie eine Elementarschule für diese zentralen Lebensvorgänge des Glaubens? Ist sie so etwas wie ein geistliches Übungsfeld, das dem Glauben Möglichkeiten bietet, sich mit allem, was ihn bewegt, vor Gott zur Sprache zu bringen?

  • Utopische Reform?

Das Vaticanum II hat uns auf ein solches Übungsfeld eingewiesen: In die Tagzeitenliturgie. Heute muss man allerdings feststellen, dass wohl kein Anliegen des Vaticanum II so ohne Echo geblieben ist wie gerade dieses Bemühen um die Tagzeitenliturgie. Was sind die Gründe? Vermutlich wirken sich u.a. historische Hypotheken aus. Denn zum einen sollen die Priester nun mit ihrer Gemeinde teilen, was über Jahrhunderte ihre ureigene Aufgabe war, umgekehrt sollen die Gemeinden  sich für etwas interessieren, was ihnen in der römischen Kirche seit Jahrhunderten fremd ist. Entscheidender fällt wohl ins Gewicht, dass das priesterliche Stundengebet trotz der Reform selbst in eine Krise geraten ist. Manche Priester klagen darüber, dass sie das Stundenbuch oft nur mit Mühe, kaum mit Freude und aus Bedürfnis zur Hand zu nehmen. Vereinsamt im Übermass von Terminen finden sie für das Gebet keinen festen Rhythmus, leiden darunter und vermögen es doch nicht zu än­dern. Viele erfahren diese Gebetsform bei der heutigen Beanspruchung nicht mehr als eine Lebenshilfe. Sie spüren den innern Widerspruch und leiden daran, dass ein Gebet, das für eine Gemeinschaft konzipiert wurde, zum verpflichtenden Einzelgebet wurde. So wundert nicht, dass diese Art des Betens im Pfarreileben kaum mehr thematisiert wird.

  • Abschied von der Breviermentalität

Meiner Meinung nach ist nochmals eine weitere Reform des Stundengebets für Seelsorger und Seelsorgerinnen fällig, in der wieder das alte, gemeindliche Tagzeitengebet in Gross- bis Kleinstgruppen im Mittelpunkt steht. (Und dies in Klammer: Bedeutsame Männer wie Jungmann, Rahner und Kardinal Lercaro haben längst vor dem Konzil für ein Gebet der Seelsorgepriester plädiert, das der Situation der Seelsorge angemessen und entsprechend organisiert sein müsste). Bekanntlich kannte die Kirche die tägliche Werktagsmesse bis ins 7.Jahrhundert nicht. Das Tagespascha feierten die Christen über Jahrhunderte im Morgen- und Abendlob. Der Weg dahin zurück, wo sich das gemeinsame Beten der Gemeinde und den betenden «Spezialisten» trennt, umfasst (im Westen) mehr als tausend Jahre.  

  • Neues Verständnis

Vor der Erkundung praktischer Möglichkeiten soll noch von Begriffen die Rede sein. Grund­sätzlich ist der Begriff «Tagzeitenliturgie» dem üblichen und ge­wohnten «Stundengebet» vorzuziehen. Denn das kathedrale Tagzeitengebet der Ostkirche unterscheidet sich darin vom monastischen Stundengebet  (Horen - horae), dass es nicht die sieben Gebetszeiten kannte, sondern nur das Abend und Morgenlob. Deshalb treffen die Begriffe Stundengebet oder Stundenliturgie die gemeinte Sache nicht mehr. Dazu kommt, dass es sich um das öffentliche Gebet der Kirche handelt, also um «Liturgie», nicht um eine Andachtsform. Darum wäre besser: Tagzeitenliturgie, oder sonst eben Tagzeitengebet. Damit wird auch besser das jeder Liturgie zu Grunde liegende Wort-Antwortgeschehen angedeutet.

  • Zielrichtung einer erneuerten Tagzeitenliturgie

Ist das Bemühen um eine erneuerten Tagzeitenliturgie nicht eine Illusion, die im Vornherein zum Scheitern verurteilt ist? Es gibt deutliche Anzeichen, die zu einer gegenteiligen Hoffnung Anlass geben: z.B. dass immer mehr Zeitgenossen sich wehren gegen die Verplanung und Verzweckung der Zeit durch eine gezielte Suche nach Halte und Orientierungspunkten im Alltagsgetriebe. Menschen suchen in einer allgemeinen Desorientierung und weitgehenden Fremdbestimmung nach sie haltenden Strukturen und Rhythmen. Obwohl man die Nacht zum Tag machen kann, spüren viele vermehrt, dass Gezeiten und Lebenszeiten verschiedene Qualitäten haben. Nichts und niemand kann ungeschehen machen, dass unser Leben in diesem Rahmen abläuft. Es wäre auch zu fragen, ob jene, die «sich den demonstrativen Luxus des Lobes als Widerstand gegen die Totalverzweckung des Menschen leisten» (Kurt Koch) nicht Menschen gezielt auf diesen «therapeutischen Weg» schicken sollten.

KG-Tagzeitenliturgie konkret

Im KG hat die Tagzeitenliturgie einen hohen Stellenwert, - anders gesagt, wenn sie keine Chance hat, wurde sinnlos Platz vergeudet. Nach einer guten Einführung (KG 258/59) werden acht Vesperfeiern angeboten: Sonntag, Advent, Weihnachten, Fastenzeit, Ostern, Pfingsten, Maria, Heilige. Ergänzend zur Sonntagslaudes verlangten die Bischöfe zurecht vier Laudes-Ablaufskizzen für geprägte Zeiten. Alle diese Modelle halten sich an die monastische Form. Das östliche sog. «Kathedralofficium» war einfacher. Doch es ist durchaus sinnvoll und erlaubt, dass man die KG-Modelle vereinfacht,  ̶  vor allem als Hilfe zur Einführung dieser Gottesdienstform: Beispielsweise durch Reduktion der Psalmen, Ersatz durch Psalmlieder, gelegentliches Sprechen von Psalmen oder Psalmparaphrasen usw. Es fragt auch, ob man nicht gelegentlich oder sogar regelmässig (wie z.B. in Buchs SG oder in der Kathedrale St.Gallen) Tagzeitenliturgien anbieten sollte als rein chorische Feiern. Die KG-Tagzeitenliturgie ist im Wesen ein hymnischer Wortgottesdienst, den man sehr wohl an eucharistiefreien Sonntagen als Morgen- oder Abendgottesdienst anbieten könnte. Im Vergleich zu andern Wortgottesdiensten, die oft sehr wortlastig sind, liegt dieser Gottesdienstform wesentlich eine hymnische, musikbetonte Gestik zu Grunde, die es übrigens auch ermöglicht, die Gemeinde schrittweise und in sehr unterschiedlicher Form aktiv zu beteiligen.

Als offene Form kennt bereits die Tradition der Tagzeitenliturgie emotional ansprechende Elemente wie die Lichtdanksagung (Luzernar), das Taufgedächtnis oder das Fürbittgebet mit Weihrauchspende. Nichts steht im Weg, in Zeichen- und Sprachgestalt auf das Lebens- und Glaubensgefühl heutiger Menschen einzugehen. Was man in der Praxis braucht, ist eine Ansinggruppe oder ein kleiner Chor, der sich nach Möglichkeit wiederholt zur Verfügung stellt und damit eine gewisse Regelmässigkeit sicherstellt. Musikalisch ambitionierte Gruppen finden auf diesem Gebiet (Psalmen, Cantica, Hymnen, Responsorien) eine Fülle von Literatur, deren Erarbeitung sich lohnt und erfahrungsgemäss mit einer dankbaren Hörerschaft rechnen darf. 

Die Kleine Tagzeitenliturgie

Während die erwähnte entfaltete Form vorzugsweise eine Sonntagsliturgie sein wird (muss allerdings nicht so sein), sind im Blick auf die sicher noch mehr abnehmenden Werktagsmessen Gebetsformen nach dem Muster der frühen Kathedralliturgien gefragt. Es geht ja nicht in erster Linie darum, dass «am Werktag auch noch etwas passiert», sondern dass christliches Gemeindeleben ohne Gebet - auch werktags - auf Dauer nicht auskommt. Solche Formen müssen als «Laienliturgien» in der Struktur einfach und leicht wiederholbar sein. Dies hat mich veranlasst, nach einem solchen Typ zu suchen, den ich die «Kleine Tagzeitenliturge» bezeichnen möchte. Vergleichen Sie dazu den einschlägigen Artikel.

                                                                                                                                 Walter Wiesli




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