Psalmen
«Psalmen beten in der Banalität und im Trott des Alltags, in Einsamkeit, Lebensangst oder Selbstbezogenheit, ̶ nicht nur, weil sie Gefühlen und Sehnsüchten eine Sprache geben, sondern weil sich uns in ihnen der menschenfreundliche Gott entgegenstreckt.» (Erich Zenger)
Die Psalmen gehören zur großartigsten Dichtung der Weltliteratur. Ihre Ausdruckskraft und Poesie ist von Jahrhundert zu Jahrhundert aufs neue entdeckt worden. Das Buch mit seinen 150 Liedern ist in einem langen Prozess entstanden. Es ist das Gebets- und Meditationsbuch Israels, in dem Menschen ihre Existenz vor Gott zu deuten versuchen, sich aber auch in Lob und Dank für Gottes Führung und Schöpfung verströmen. Dieses Lebensbuch der Frommen und Armen Israels strebt keine thematische Ordnung an. Die unterschiedlichsten Lebenssituationen kommen darin zu Wort: Lob, Dank, Klage, Protest, Bitte, Zeugnis usw. Ein Teil der Psalmen dürfte aus dem Gottesdienst hervor gewachsen sein, ein weitaus größerer Teil entstand aus der persönlichen Situation oder Erfahrung der Beter.
Sprachform der Psalmen
Eine oft wiederkehrende Eigenart der Psalmen bildet der so genannte Parallelismus der Verszeilen: In einem Gedanken- oder Bildreim sagen zwei Vershälften das Gleiche aus; der gleiche Sachverhalt wird aus zwei veränderten Perspektiven gesehen. Die Vieldeutigkeit und Offenheit der Psalmen machen es dem heutigen Menschen leicht, sich in diesen Gebeten wieder zu finden. Betend, reflektierend und meditierend bringt er vor Gott sein Leben zur Sprache: Gefühle des Glücks, Schmerz, Frustration und Enttäuschung, Hoffnung und Angst, Segen und Fluch, Geborgenheit und Entfremdung. Das Psalmengebet ermutigt, die Not ungefiltert vor Gott auszusprechen. Es redet von Feinden und Feindschaft und verdrängt auch diese Wirklichkeiten nicht. Beter und Beterinnen benennen das Böse und fordern die Durchsetzung göttlicher Maßstäbe schon jetzt in dieser Weltzeit. So helfen die Psalmen allen, die sie beten, dem Leiden nicht auszuweichen und seine Bekämpfung nicht aufzuschieben. Sie halten den Glauben an einen gerechten Gott wach, der sein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens durchsetzen wird.
Psalmen im Neuen Testament
Im Neuen Testament sind die meisten alttestamentlichen Zitate dem Buch der Psalmen entnommen. In der christlichen Liturgie spielen die Psalmen von Anfang an eine hervorragende Rolle. Wenn Christen Psalmen beten, bekennen sie sich zu ihrer jüdischen Ursprungsgeschichte und beten, wie der Jude Jesus von Nazaret gebetet hat.
Psalmen in der Liturgie
Im Gottesdienst der Kirche begegnen uns die Psalmen vor allem in zwei Funktionen: als Antwortpsalm nach der Lesung und als Gemeindegesang im Stundengebet. Im Antwortpsalm äußert die Gottesdienstgemeinde ihre Betroffenheit und Dankbarkeit über das in der Lesung zugesprochene Heil. Der Kantor oder die Kantorin trägt Psalmverse vor, welche die Versammlung mit einem Leitvers umrahmt. Die etwas anspruchsvollere Kantorenpsalmodie findet sich im Vorsängerbuch. Im Stundengebet singt die Gemeinde selber den Psalm im Wechsel zweier Gruppen. Hier bildet der Leitvers, der in der Regel einen Kerngedanken aufgreift, nur den Rahmen am Beginn und am Schluss des Psalms. Die ständige Wiederholung einer einfachen melodischen Formel schafft einen Zustand betrachtenden Betens. Obwohl nicht immer jedes Wort des Psalms mitvollzogen wird, entsteht eine Atmosphäre hingebenden Preisens. Dazu hilft auch die markante Pause zwischen den Vershälften, in der das Gesungene nachschwingt und der Atem sich ruhig erneuert. Der Wechsel zwischen den Chorhälften hingegen schließt unmittelbar an.
Psalmen im KG
Die Auswahl der 57 Psalmen erfolgte vor allem im Hinblick auf ihre Funktion im Gottesdienst. Die Psallierweise wird jeweils über dem Psalm angegeben. Wenn andre Leitverse gewählt werden, muss deren Tonart, die in römischen Ziffern vermerkt wird, mit jener des Psalms übereinstimmen. Die Gliederung des Psalms in Sinnstrophen ist durch einen längeren Gedankenstrich angedeutet. 12 Sprechpsalmen, die sich besonders zum gemeinsamen Beten eignen, sollen ebenfalls von einem gesungenen Leitvers umrahmt werden.
Walter Wiesli