Katholisches Gesangbuch

Qualitätskriterien für GO-Musik   

Papst Pius X. versuchte in seinem Motuproprio «Tra le sollecitudini» 1903 objektive Qualitätskriterien für Kirchenmusik festzulegen. Es sind dies: Heiligkeit, Güte der Form und Allgemeinheit. Sie alle erweisen sich bei näherer Betrachtung als unbrauchbar: Mit Heiligkeit (sanctitas) wird der Musik ein Attribut zugedacht, das sich begrifflich nicht fassen lässt. «Sanctitas» resp. «sacer» wird stets nur negativ umschrieben mit «nicht profan», was nicht weiterführen kann. Güte der Form (bonitas formae) ist zwar ein wichtiges ästhetisches Kennzeichen, lässt sich begrifflich wie inhaltlich ebenso wenig in Kürze definieren. Die Idee der Allgemeinheit (universalitas) geht von der falschen Annahme aus, dass es Musik gibt, die allen Kulturen der Welt verständlich und gemeinsam sei. Letztlich müssen Bemühungen Kriterien «an sich», d.h. ohne Bezug auf deren Funktion und Adressaten, scheitern. «Heilig» ist keine bestimmte Musikform, kein Stil und keine Kompositionsweise, sondern immer nur das Geschehen, innerhalb dessen diese Musik erklingt.

Im Prinzip ist jeder Musikstil für den Gottesdienst geeignet, gleich ob es sich um Gregorianik oder Rockmusik, um ein freies Jazzstück oder eine strenge Fuge, um aussereuropäische Musik oder solche der musikalischen Avantgarde in Europa handelt. Das Kriterium heisst seit dem Vaticanum II die «Funktionalität», d.h. Funktionsgerechtheit bezüglich Wort, Ritus und Gemeinde. Und doch lässt sich natürlich die Erfahrung machen, dass nicht jede Musik dem Inhalt und der Bedeutung einer gottesdienstlichen Feier angemessen ist, – und nicht jede ist es zu jeder Zeit. Das Kriterium der Funktionalität kann in folgender Richtung konkretisiert werden:

  • Die Musik muss die für die gottesdienstliche Feier erforderliche geistliche und emotionale Tiefe besitzen oder zumindest geeignet sein, die feiernden Menschen zu dieser hinzuführen. Es wird sich daher bei der gottesdienstlichen Musik in der Regel nicht um unterhaltende Musik handeln, sondern um solche, die den Menschen sammelt und innerlich bewegt. Dabei ist die Unterscheidung zwischen E- und U-Musik, wie sie heute gebraucht wird, problematisch. Denn es gibt auch im Bereich der U-Musik ernste Kompositionen und in der E-Musik Werke, die ausschliesslich der Unterhaltung dienen. Viele Jazz-Musiken können nicht einfach der U-Musik zugeordnet werden.
  • Die Musik muss in ihrer Art, Aussage und Ausführung hingeordnet sein auf den Anlass und die innere Struktur der gottesdienstlichen Feier; die Musik sollte die innere Dynamik bzw. den Inhalt der Feier aufgreifen, unterstützen, ergänzen oder auch kontrastieren, keinesfalls jedoch behindern. Auch die Auswahl der musikalischen Formen (Lied, Psalm, Akklamation usw.) und ihre Funktion (Begleitung, Antwort, Zuruf usw.) haben sich an den Erfordernissen der Feierdynamik zu orientieren.

Die Musik muss von den anwesenden Feiernden verstanden werden können und ihren Ausdrucksmöglichkeiten entsprechen. In einem Kindergottesdienst werden daher andere musikalische Ausdrucksformen angebracht sein als in einem Gottesdienst von Jugendlichen oder Erwachsenen. Bei der Auswahl ist ferner darauf zu achten, dass keine Mitfeiernden von der Gemeinschaft ausgeschlossen werden – etwa indem vorwiegend Musik Verwendung findet, die nur für einen Teil der Gottesdienstgemeinde stimmiger und angemessener Ausdruck ihres Glaubens zu sein vermag.

Künstlerische Perfektion ist keine liturgische Kategorie, wenn sie auch im Rahmen des vor Ort Möglichen immer angestrebt werden sollte. Wichtig ist jedoch an erster Stelle der Geist, in dem Menschen feiern und miteinander in Musik kommunizieren. Im Zweifelsfall ist somit das für die Feierdynamik eines Gottesdienstes besser geeignete, aber musikalisch weniger ausgereifte Musikstück dem ästhetisch hochwertigen, aber in der konkreten Feiersituation weniger passenden vorzuziehen. Eine Entscheidung kann freilich nie allgemein, sondern nur im Blick auf den konkreten Gottesdienst und dessen innere Dynamik erfolgen. Dabei soll eine behutsame Hinführung zu qualitativ guter Musik in jedem Fall angestrebt werden, was vor allem auf der Ebene des Gemeindegesangs durch nachhaltige Arbeit möglich ist.

                                                                                                                                                                            Walter Wiesli                      




WarenkorbWarenkorb