Katholisches Gesangbuch

Gregorianik und KG   

Das gregorianische Repertoire

Spätestens seit Gregorianik in die Hitparaden kam, weiss man, dass eine jüngere Generation wieder einen neuen, unbelasteten Zugang zu dieser Musik hat; die nicht immer positiven Erinnerungen an die Choralämter scheinen die Älteren inzwischen weitgehend vergessen zu haben. Wenn heute allerdings erneut aus dem alten Schatz gregorianischen Singens geschöpft werden soll, kann wenig Tradition vorausgesetzt werden und ist praktisch ein Neuanfang nötig. Bei der Auswahl des Repertoires war im Blick auf die Nachfrage Bescheidenheit geboten. Auch bezüglich der Erwartungen erwies sich der Spielraum als relativ gering. Mehr als drei Messen meinte man nicht anbieten zu dürfen. Als erstes schien die «Missa de Angelis» unverziechtbar zu sein, – obwohl Gregorianiker die «Lux et origo»

dagegen gerne eingetauscht hätten. Ein weiteres, indes  glückliches Muss war die «Missa mundi», die bestes Traditionsgut anbietet. Im Kirchenjahr gut zu plazieren ist die «Adventus et Quadragesima», die zwar kein gregorianisches Urgestein bringt, aber immerhin gute und eingängige Melodien. Beim Credo fiel die Wahl auch zwangsläufig auf das Credo III, das sich katholischer Universalität erfreut. Die restlichen Gesänge (Antiphonen, Hymnen, Sequenzen und Akklamationen)  führen zu einem

Bestand von 31 Stücken. Mit einen Notensatzprogramm von Münsterschwarzach war es möglich, die Gesänge im Vierliniensystem zu schreiben und damit der unschönen «Fischlaich-Notation» (des GL) zu entkommen.

Die Jahreszahl über den Notenlinien bezeichnet nicht das Alter, sondern die nachweisbar früheste Aufzeichnung, die im besten Fall bis ins zehnte Jahrhundert zurückreicht. Manche Gesänge (vorab der Missa mundi) sind wesentlich älter. Wenn man diese Angaben vergleicht, wird deutlich, dass diese Ordinariums-Komposition ursprünglich nicht zusammengehörten. In den alten Handschriften wurden die Gesänge nach Gattungen (Kyrie, Gloria usw.) geordnet. So ist auch heute ein Austausch der Stücke durchaus möglich. 

Notationsprinzipien

In der Notationsweise der 31 gregorianischen Stücke hielten wir uns mehr oder weniger an die Editio Vaticana. Sie kommt zur Hauptsache mit vier Gliederungszeichen aus: Viertelstrich, Halbstrich, Ganzstrich, Doppelstrich. Damit ist das Wort-Satzgefüge und das kadenzale Geschehen hinreichend zu erfassen. Vor allem in Kadenzen erübrigen sich Dehnungszeichen; sowohl der melodische Verlauf wie auch das Gliederungszeichen definieren das Geschehen eindeutig. Die Gliederungszeichen der gregorianischen Notenschrift haben bekanntlich nichts zu tun mit den Taktstrichen der modernen Notenschrift. Sie markieren die Abrenzung musikalischer Motive oder den Abschluss einer grösseren Einheit. Je nach Grösse des Zeichens (Komma, Viertelstrich, Halbstrich, Ganzstrich, Doppelstrich) bewirken gewöhnlich eine kleinere oder grössere Verbreiterung der vorausgehenden musikalischen Einheit (Einzelnote oder Motiv). Auch der Viertelstrich ist oft kein Atemzeichen. Der musikalische Kontext entscheidet, ob er eine Binnenkadenz signalisiert und eine kleine Atemzäsur zulässig ist. Beim Halbstrich kann Atem geschöpft werden ohne jedoch den rhythmischen Fluss zu unterbrechen. Beim Ganzstrich fügt man in der Regel eine Zäsur vom Wert einer Note ein. Der Doppelstrich findet sich am Ende eines Stücks oder bezeichnet innerhalb eines Gesangs den Wechsel zwischen zwei Chorhälften (z.B. Vorsänger, Gemeinde). Führt eine einzige Gruppe das ganze Stück aus, so hat der Doppelstrich die rhythmische Bedeutung eines Ganzstrichs. Softwarebedingt waren liqueszente Neumen nicht wiederzugeben. Der Custos als ein choraleigenes Zeichen wurde belassen. Zwar wird er von den meisten Benützern überlesen, ist aber als graphisches Element ein guter Zeilenschluss. Auf die Angabe des Modus zu Beginn der Notenlinie wurde verzichtet. Als Interpretationshilfe kommt das waagrechte Episem zur Anwendung. Als ursprüngliches Zeichen früher  Handschriften bewirkt es eine Längung des Tones, die sich aus dem Kontext ergibt. Sein Gebrauch ist in unsern Gesängen oft eine Ermessensfrage und kaum je zwingend. Aber um bereits eingesungenen Traditionen Rechnung zu tragen, dürfte es eine Hilfe für das gemeinsame Singen sein.

Erste Choralmesse: Missa mundi

Das Kyrie (160) stammt aus der 16.Messe der Vaticana. Es handelt sich um einen der ältesten  Kyrie-Rufe, welcher vermutlich Abschluss der Allerheiligen-Litanei war, die zu Beginn der Messe gesungen wurde. Wie bereits erwähnt, wurde der letzte Ruf weggelassen, der erst später als Intonationshilfe zum Gloria dazukam.

Auch im Gloria (161) begegnen wir einer altgallikanisch-römischen Weise. Darauf verweist schon die halbtonlose Pentatonik auf e (das f wird ausgelassen). Das Schluss-Amen bringt diesen Halbton und verrät damit seine spätere Herkunft. Die gleiche archaische Tonalität benützen auch das Te Deum wie das mozarabische Vaterunser (124).

Das Sanctus, (162) das vielen leider nur vom Requiem her bekannt ist, bietet die älteste uns kannte Sanctus-Melodie. Sie fliesst organisch heraus aus der Präfation und war – offenbar immer als Teil der Präfation empfunden – lange die einzige Singweise des Sanctus.

Ähnlich verhält es sich mit dem Agnus Dei (163). Auch diese Melodie dürfte lange vor dem 11.Jh. im Gebrauch gewesen sein. Sie schliesst wiederum nahtlos an das Pax Domini an (173.2).

Zweite Choralmesse: Missa de Angelis

Der Name «De Angelis», zu deutsch «Engelmesse»,  rührt nicht von einem ehemaligen Kyrie-Tropus her, sondern weil diese Messe bei den Franziskanern des 17.Jh. für die «Messe von den Engeln» üblich war.

Die ausladende Dur-Melodie des Kyrie (164) verrät bereits eine spätere Entstehungszeit. Wie auch in andern Kompositionen hat sich der Rufcharakter  in dieser Epoche weitgehend verloren. Dieses Kyrie würde sich deshalb auch nicht für eine tropierte Form (Form C) eignen. Es lässt viele Singweisen zu: Es kann von Anfang bis Schluss von der Gemeinde durchgesungen werde, – was aber in der Regel recht mühsam wirkt und meistens im Tempo verschleppt wird. Besser wäre: V: Kyrie; A: Christe; V: Kyrie; A: Letztes Kyrie. Das letzte, erweiterte Kyrie der Gemeinde zuzuweisen, ist unproblematisch, denn die Erweiterung besteht lediglich in der Wiederholung des ersten Motivs. Mit Notationshilfen (Phrasierungszeichen, Episem) werden Binnenkadenzen und Längungen verdeutlicht.

Das Gloria im 5.Modus durchläuft wiederum die ganze Oktave, setzt sich aber doch in der betonten Syllabik vom Kyrie deutlich ab. In einer mozarabischen Fassung wird die 4.Stufe (b) nicht nur im Amen, sondern mehrmals zuvor eingesetzt. Die Neigung zur Dur-Tonleiter scheint deutlich durch.

Das schöne, melodieselige Sanctus wurde im 12.Jahrundert der Antiphon «O Christi pietas» zum Fest des hl.Nikolaus von Myra entnommen. Nikolaus wurde 1087 von Myra nach Bari übertragen und ab diesem Zeitpunkt hat sich diese Antiphonmelodie im Abendland rasch verbreitet und erfreute sich grosser Beliebtheit.

Das wesentlich jüngere Agnus Dei lehnt sich an das Sanctus an. In seiner bescheideren Melismatik und im geringeren Tonumfang wirkt es ruhiger. Die Verwandtschaft verrät vor allem das 2.Agnus Dei, das das «Pleni sunt caeli» aufgreift.

Dritte Choralmesse: Advent, Fastenzeit

Die drei Gesänge für die Advents- und Fastenzeit kommen wiederum dem Volksempfinden entgegen, dem eine melodische Entfaltung mehr liegt als die herbe Pentatonik oder eher rezitativische Syllabik. Das Kyrie (168) verkostet reichlich, aber immerhin gekonnt, den Durdreiklangraum. Forscher wollen dieser Melodie bereits im 13.Jh. begegnet sein (MGG VII 1935).

Das Sanctus (169) im 5.Modus zeigt, dass man bereits im 11.Jh. die systematisch erniedrigte 4.Stufe nicht scheute. Lichtvoller Höhepunkt ist stets der Oktavton, der mit einer eleganten Quilismagruppe  subtil angegangen wird. Das Episem auf dem Spitzenton zeigt, dass der Aufschwung vor der Quilisma (gezackte Note) nicht gebremst werden darf und der Zielpunkt des Rhythmus und Melodieverlaufs diese höchste Note ist.

Das Agnus Dei (170) lehnt sich wiederum ans Sanctus an. Es verwendet den gleichen Tonumfang und die gleiche Melodiestruktur, verzichtet aber die reichere melismatische Entfaltung des Sanctus. Die Angleichung verrät Sachverstand.

Walter Wiesli




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