Katholisches Gesangbuch

Psalmenkoller   

 Achzig Seiten für Psalmen, dreissig für Psalmlieder, 110 Psalmenzitate, – übernimmt sich das KG nicht einwenig mit seiner Freude an den Psalmen? Kritiker geben zu bedenken, Psalmen seien nun doch Lieder aus einer vorchristlichen Zeit. Doch auch sie wissen, dass Christen von Anfang an Psalmen sangen und beteten. Der heilige Benedik im 6.Jahrhundert liess seine Mönche alle 150 Psalmen wöchentlich beten; schon damals waren fünf wichtige Gesänge der Messfeier Psalmen.

Die Gründe für die christliche Wertschätzung der Psalmen führen fürs Erste zu Jesus selber. Die Jünger haben ihn vor allem im Meditieren und Rezitieren der Klage- und Vertrauenspsalmen (Psalm 22, 31, 42/43, 69) als Psalmenbeter erlebt. Auch die jungen christlichen Gemeinden wussten: Wer beten will wie Jesus, wird auf  das Vaterunser und auf die Psalmen verwiesen. So wundert es nicht, dass weder das Neue Testament noch das 2.Jahrhundert eine neue Sammlung christliche Gebete oder Lieder geschaffen haben. Denn in der Person Jesu sehen Christen den Anbruch des in den Psalmen universalen Reiches Gottes. Deshalb beten wir die Psalmen bis heute in der Gemeinschaft mit Jesus in der Hoffnung auf das Kommen des Gottesreiches.

Trotzdem darf man sich fragen: Sind diese alten Lieder aus der Zeit des 4.Jh.v.Chr. noch zeitgemäss? Kann das, was Jesus verheisst, nicht mit neueren, zeitgemässeren Worten und Bildern ausgesagt werden? Wer die Psalmen kennt, wird dem entgegenhalten, dass diese Texte das Leben in einer ungewöhnlichen Vitalität und Farbigkeit zur Sprache bringen: Freude, Leid, Enttäuschung, Zweifel, Glück, Segen, Fluch, Gottnähe und Gottferne .... Der Dichter Rainer Maria Rilke schreibt (1934) an seinen Verleger: «Ich habe die Nacht einsam hingebracht und schliesslich die Psalmen gelesen, eines der wenigen Bücher, in dem man sich restlos unterbringt, mag man noch so zerstreut und ungeordnet und angefochten sein.»

Als Gebete sind die Psalmen interessant, weil sie eine lange und komplexe Glaubensgeschichte hinter sich haben. Sie sind gewissermassen ein «Lehrpfad des Glaubens», wo das Suchen und der Zweifel, Leere und Einsamkeit, Verlassenheit und Gottesnähe ihren Ort haben. Freilich sind Psalmen auch Zeitdokumente alttestamentlicher Verfasser und Beter, die ihre Welt- und Gottessicht einbringen. Als christliche Beter/innen werden wir kaum die Verse eines Juden in der Verbannung beten können: «Wohl dem, der deine Kinder packt und sie am Felsen zerschmettert» (Psalm 137.9). Dieses Problem führte dazu, dass drei so genannte Fluchpsalmen (58, 83 und 109) aus dem Stundengebet entfernt wurden. Nicht alle fanden dies gut, weil sie meinen, auch Emotionen und Aggressionen müssten im Gebet eine Sprache finden.

Das Kirchengesangbuch war damit nicht konfrontiert. Bei seiner Auswahl der Lob-, Dank-, Bitt- und Klagepsalmen hielt man sich an die schönsten und liturgisch ergiebigsten Texte, für die der Dichter Rilke sein oben erwähntes Kompliment wiederholen würde.

Walter Wiesli




WarenkorbWarenkorb