Katholisches Gesangbuch

Funktionalität   

Funktionalität und Ritus

Gottesdienstmusik lässt sich nicht nur mit ästhetischen Kriterien definieren. Sie muss im Kontext der Riten und der sie vollziehenden Gemeinde gesehen werden. In diesem Sinn hat sie eine Dienstfunktion, ein ’munus ministeriale’, sie ist funktionale Musik. Funktionale Musik kennen wir auch aus dem Alltag. Ein Zusammenhang zwischen Musik und dem mit ihr verbundenen Anlass kann von der Sache selbst oder durch Konvention begründet sein. Von der Sache her: Marschmusik, zu der man schreiten will, lässt sich nur mit einem Vierertakt realisieren. Durch Konvention bedingt: Eine Landeshymne wird bei gegebenem Anlass nicht gesprochen, sondern gesungen oder gespielt. Beide Aspekte werden in der liturgischen Musik auf ihre Weise wirksam. Wird nun aber die funktionale Bindung nicht zur Behinderung einer künstlerischen Entfaltung der Musik? Das Problem ist alt. Im Rundschreiben «Musicae sacrae disciplina» von 1955 finden wir es wie folgt formuliert:

«Man behauptet, die Inspiration, die den Künstler leitet, sei frei und es gehe nicht an, ihm religiöse oder sittliche, kunstfremde Gesetze und Richtlinien aufzuerlegen, weil so die Würde der Kunst schwer verletzt werde und dem von geheimnisvollem Hauch getriebenen Wirken des Künstlers gleichsam Fesseln und Ketten angelegt werden» (Musicae sacrae disciplina Nr. 9). Mit der Musikgeschichte ist unschwer das Gegenteil zu belegen. Man vergleiche den in sich versponnenen Dialog einer absoluten Musik mit der Vitalität und hinreissenden kommunikativen Kraft von Strawinskys Ballett  Sacre du Printemps. Hat hier lässt der Tanz die Musik erst eigentlich zu sich selbst kommen. In vielen Fällen ist es die Thematik, das Programm, das die Kräfte der Musik entfesselt und frei macht. Auf ein noch bekannteres Beispiel liesse sich hinweisen: Mozarts Zauberflöte. Vier funktional auf die Charakteristik von Personen zugeschnittene Musikstile sind unverkennbar: Koloraturarie (Königin der Nacht), Volksliedton (Tamino, Sarastro), Coupletstil (Vogelfänger), bachscher Kontrapunkt (Geharnischte). Wenn Musik und Sprache sich verbinden, kommt nicht nur akzidentell noch etwas dazu, was die Musik deutet (im Sinn von Programmmusik), oder die Sprache hebt und verfeierlicht. In der Partnerschaft von Musik und Wort entsteht eine neue Dimension von Aussage, ganz gleich welches Element in Übereinstimmung mit der Gattung nun den Vorrang hat.

Funktionalität und Gemeinde

Eine tätige und bewusste Teilnahme am Gottesdienst setzt zwingend voraus, dass der Gottes-dienst mit Zeichen, Sprachformen und Musik gefeiert wird, die von den Anwesenden auch verstanden und nachvollzogen werden kann. Wesensgemässer Vollzug von Liturgie hat somit auch entscheidend mit dem Ausdruckscode und der Rezeptionsfähigkeit der Gemeinde zu tun. Die Ausdrucksformen müssen den Lebens- und Glaubenserfahrung der Feiernden entsprechen und sie nicht nur verbal, sondern auch in der emotionalen Tiefe des Geschehens treffen. Ohne seinen konkreten Lebensbezug, seinen «Sitz im Leben», verkommt der Gottesdienst zum blossen Ritual. Auf heutige Gemeinden in ihrer pluralen Gestalt einzugehen, mag fallweise  recht schwierig sein. Einerseits verpflichtet uns die Liturgie auf gewisse Wesenskonstanten, die als verbindliche Regelungen weltweit auch eine identitätsstiftende Funktion haben. Andererseits soll die Ortsgemeinde in der Liturgie ihre Identität finden und feiernd zum Ausdruck bringen können. Diesem Anliegen hat das Vaticanum II in der SC grosszügig Rechnung getragen: «Unter Wahrung der Einheit des römischen Ritus im wesentlichen (SC 38) ist berechtigter Vielfalt und Anpassung an die verschiedenen Gemeinschaften, Gegenden und Völker ... Raum zu belassen, auch bei der Revision der liturgischen Bücher» (ebd.).  J.A.Jungmann verdeutlicht: «Mit dem genannten Grundsatz ist gegeben, dass die bisher festgehaltene Strenge Einheit der römischen Liturgie aufgegeben wird zugunsten einer Einheit im Wesentlichen und einer weitgehenden Differenzierung im Einzelnen. ... Dafür ist eine Voraussetzung, dass auch schon die römischen Bücher darauf Rücksicht nehmen, indem sie für entsprechende Ausgestaltung Raum lasse.» ( J.A.Jungmann, in LThK/EbI, 43). Diesem Anliegen sind zumindest die frühen Ausführungsdokumente mit Begeisterung gefolgt: Die AEM (3) verlangt eine Teilnahme, «die Leib und Seele umfasst und von Glauben, Hoffnung und Liebe getragen ist. So wünscht es die Kirche, so verlangt es das Wesen der Feier, so ist es kraft der Taufe Recht und Pflicht des christlichen Volkes.» (AEM 3).

Funktionalität und Vaticanum II

Mehrfach ist in der Liturgiekonstitution (SC) des Vaticanums II die Rede vom «Wesen» liturgischer Elemente, es ergibt sich «ex rei natura» (SC 28), aus dem Wesen der Sache. Ein Ruf beispielsweise ist wesensgemäss lapidar kurz, lange Melodiefolgen verfremden ihn. In andern Zusammenhängen wird die Wesensgemässheit mehr mit dem Ursprung einer Sache («natura et origine») begründet: So wurden im frühen Rom Gesetzte durch Akklamation verabschiedet. Akklamationen werden in der Regel von einer Vielzahl von Menschen ausgeführt, sind in der Liturgie also Sache der Gemeinde. Betrachtet man Wesensgemässheit eher aus einer operativen Perspektive, wird dafür passend der Begriff  «Funktionalität» gebraucht. Die AEM (18) verlangt demgemäss, dass Texte «ihrer Eigenart entsprechend» vorzutragen seien. Dies gilt auch für die Messgesänge. Sie erfordern ihrer Natur und Funktion gemäss eine entsprechende Vortragsweise: Das Kyrie ist ein Ruf, das Gloria ein ausladender Hymnus (trinitarisch, lobpreisend), der Antwortgesang ein «wortmelodisches Meditieren» (Kantillation), das Halleluja ein wortloser Jubelruf mit betonter Musikgestik, das Sanctus eine Gemeinde-Akklamation, der Einsetzungsbericht eine Erzählung («narratio»), rezitativischer Sprechgesang usw. 

Form und Funktionalität im Clinch

Aus der Musikgeschichte ist bekannt, dass die Geschlossenheit zyklischer Kompositionen wie beispielsweise des Messordinariums auf einem langen Weg verschiedenster Techniken einen bewunderswerten Stand erreichte. Die Polyphonie der Renaissance ist dafür ein klassisches Beispiel.

Palestrina komponiert die Messe «Aeterna Christi munera» nach dem gleichnamigen Hymnus des Commune Apostolorum. Dieser Hymnus wird in vier Themengruppen aufgespaltet, die das motivische Material für alle Gesänge der Messe liefern. Der thematische Spannbogen über das Ganze ist perfekt, die Geschlossenheit kaum zu überbieten. Was wir kompositorisch zurecht als eine musikalischen Errungenschaften bezeichnen, ist aus liturgischer Sicht nicht unproblematisch. Eine solche Technik kommt meistens in Konflikt mit dem Anspruch auf Funktionalität der unterschiedlichen Gesänge. Ein Problem, das sich in späteren Epochen der Messkompositionen immer wieder stellt.

Dass der musikalische Gewinn hier auf Kosten der gottesdienstlichen Brauchbarkeit geht, liegt auf der Hand. Es ist in keiner Weise erstrebenswert, dass ein Kyrie wie das Gloria, ein Credo wie ein Sanctus komponiert ist. Dies führt letztlich zur Disfunktionalität. Es ist verständlich, dass Teile eines derart geschlossenen Messzyklus nicht gern ausgelassen werden. Mit andern Worten: Die Gemeinde muss meistens auf die ihr zustehenden Gesänge (Sanctus, Credo, Kyrie) verzichten. Grundsätzlich ist dieser Praxis nicht zuzustimmen. Stilistisch würde sich ein einfacher Gregorianischer Gesang neben altklassischer Polyphonie sehr gut vertragen. Gerade Palestrinas Messen werden häufig durch diese Quelle gespiesen. Das Argument der stilistischen Einheit wird jedenfalls zu Unrecht bemüht, wenn im Interesse einer funktionsgerechteren Gestaltung dieser musikalische Kompromiss vorgeschlagen wird.

Walter Wiesli




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