Katholisches Gesangbuch

Psalmengebet   

 Jeder Ruf nach Gott hat in den Jahrtausende alten Psalmen seine einmalige archetypische Form. Der Psalm gibt auch unserm Glauben, Zweifel, Widerstand und Ergebenheit, Freude und Ausweglosigkeit eine Stimme. Ein Drittel der alttestamentlichen Zitate im Neuen Testament stammen aus den Psalmen. So wundert es nicht, dass der christliche Gottesdienst mit und zu Christus zum grossen Psalmisten wurde. Liturgie ist ohne den Schlüssel der Psalmen nicht zu erschliessen.

Entstehung der Psalmen

Das Buch der Psalmen enthält 150 Lieder, die aus verschiedenen kleineren Psalmsammlungen zusammengestellt wur­den und zu unterschiedlichen Zeiten (von den Anfängen der Besied­lung Kanaans bis weit nach dem Babylonischen Exil), an verschie­denen Orten und mit unterschiedlicher Absicht entstanden. In der heutigen Gestalt dürfte das Buch der Psalmen als Sammlung ausge­wählter Beispiele einer ganzen Literaturgattung seit dem  3.Jh.v.Chr. existieren. Der hebräische Name des Buches: tehillim (= Lob­gesänge; griech. psalmoi = Lieder zur Harfe) macht das Grundver­ständnis deutlich: Es handelt sich nicht um Prosatexte, sondern um religiöse Lyrik, die zum Singen gedacht und von Musik, Gebärden und Tanz begleitet wurden.

Inhalt der Psalmen

Inhaltlich spiegeln die Psalmen unterschiedlichste Lebens- und Glaubenssituationen wieder, wobei man im Wesentlichen folgende Gattungen unterscheidet:

  • Loblieder,
  • Klagelieder des einzelnen oder des Volkes,
  • Danklieder,
  • didaktische Psalmen (Lehrpsalmen, Weisheitslieder),
  • messianische Psalmen (Königslieder).

Verwendung der Psalmen

Die Psalmfrömmigkeit des alttestamentlichen Judentums hatte ihren Schwerpunkt ausserhalb des offiziellen Gottesdienstes. Weder im Tempelkult noch im Synagogengottesdienst ist das Buch der  Psalmen als all­gemein verbreitetes «Gesangbuch» belegt. Während im Tempelkult zwar durchaus einige Psalmen gesungen wurden, gibt es für den Synagogengottesdienst bis zum 2.Jh. nach Chr. keinen Hinweis auf die Verwendung von Psalmen. Sie dienten vielmehr vorwiegend der Belehrung und Erbauung im aussergottesdienstlichen Bereich wie der Familie oder innerhalb verschiedener geistlicher Gemeinschaf­ten. Vor allem bei den Essenern in Qumran und den Pharisäern wa­ren die Psalmen sehr beliebt. Von diesen Gemeinschaften her dürfte auch Jesus mit den Psalmen vertraut geworden sein. Die neutesta­mentlichen Schriften legen ihm daher sicher nicht zu Unrecht häu­fig Psalmtexte in den Mund.

Psalmen im Neuen Testament

Das Neue Testament gibt keinen Hinweis darauf, dass die Psal­men bei den Christen anders als im zeitgenössischen Judentum ver­wendet wurden, d.h. zur Erbauung und Belehrung ausserhalb des Gottesdienstes. Erst ab dem 4. Jh. – im Zuge einer zunehmenden Notwendigkeit, sich von Irrlehren abzusetzen, die in neu geschaffe­nen Hymnen und «Psalmen» verbreitet wurden – findet der Psalter als Gesangbuch Eingang in den Gottesdienst: Zunächst bei ägyptischen Mönchen, von dort dann als Hauptbestandteil des monastischen Tagzeitengebetes auch in anderen Ländern. Bezeugt ist aus dieser Zeit auch die Verwendung der Psalmen als alttestamentliche Le­sungstexte (Psalmlesung). Dabei wurden die Psalmtexte jedoch – ih­rer Eigenart entsprechend – nicht gesprochen, sondern singend

vor­getragen. Vor allem die Kirchenväter sehen dann in den Psalmen das Ge­betbuch Jesu, in das die ihm nachfolgenden Gläubigen einzustim­men hätten. Gleichzeitig werden die Psalmen nunmehr aber auch als Gebete zu Christus selbst verwendet. Die in den Psalmen häufig vorkommende Gottesanrede «Herr» wird in diesem Sinn bereits in neutestamentlicher Zeit auf Christus bezogen. Seit dem 5. Jh. ist auch der Brauch bezeugt, den Psalmengesang mit einer trinitarischen Doxologie zu beschliessen, um so das nachösterliche Verständnis der Psalmen zu bekräftigen.

Struktur der Psalmen

Der formale Aufbau der Psalmen ist geprägt vom «Parallelismus membrorum» (Entsprechung der Vershälfte): Jeder Psalmvers wird in zwei bzw. drei Abschnitte unterteilt, die gegenseitig einen Bezug  haben. Er wird oft noch verstärkt durch die sog. «Interpunktionsmelismatik» d.h.: Im Vor­trag werden die Texteinschnitte – die Stellen, an denen im ge­schriebenen Wort Satzzeichen stehen – mit melo­disch reicheren Kadenzen (Melismen) versehen und damit Inter­punktionen quasi hörbar gemacht.

Psalmen in Liedform

Neben der Psalmodie ist bis heute die liedmässige Ausführung der Psalmen weit verbreitet, auch wenn der Psalm durch die rhythmisch festgelegte und abgeschlossene Liedstruktur viel von seiner Offen­heit verliert. Innerhalb der Liedformen wird zwi­schen Liedpsalm und Psalmlied unterschieden.

Beim Liedpsalm erhält der Psalmtext zwar die Struktur durch gleich geformte Strophen, bleibt in seinem inhaltlichen Duktus aber möglichst wortgetreu erhalten. Zurecht berühmt sind die Liedpsalmen des Genfer Psalter (Hugenotten-Psalters) z.B. KG 440.

Im Psalmlied (von Martin Luther) ist die textliche Bindung geringer. Der Psalmtext wird zwar ebenfalls in Strophenform dargeboten, aber nur mehr oder weniger weitläu­fig paraphrasiert z.B. KG 384.

Psalmen in der Liturgie

Die meisten Gesänge der Gregorianik vertonen Psalmtexte. Dabei liegt ihnen oft eine psalmodische Grundstruktur zu Grunde, die man heute kaum mehr erkennt. Das Prinzip ist leicht nachzuweisen: Das psalmodische Formelmaterial (Initium, Mediatio und Finalis) entfaltet sich melodisch auf Kosten des Ténors, der verdrängt wird.

In der Messliturgie hat der Psalm nachweislich früh an fünf Stellen seinen Platz: Beim Einzug (der Intoitus), nach der Alttestamentlichen Lesung (Graduale), vor dem Evangelium (Halleluja-Psalm), zur Gabenprozession  (Offertorium) und zum Kommuniongang (Communio). 

In der Tagzeitenliturgie, welche Christen seit ältester Zeit an den Wendepunkten des Tages feiern,

haben Psalmen eine bevorzugte Stellung. Ursprünglich nahmen daran alle Christen teil. Erst später am Ausgang der Spätantike zerfällt diese gemeindliche Praxis und wird vom «Officium divinum» des Mönchtums übernommen.

Psalmenvertonungen

Psalmvertonungen sind nicht nur in der Liturgie, sondern in der abendländischen Musiktradition eine bedeutsame Musikgattung. Neben der einstimmigen Gregorianik ist die Psalm-Motette die historisch wichtigste und künstlerisch anspruchsvollste Art der Psalm-Komposition. Ihr erster Grossmeister ist Josquin Desprez (16.Jh.), ihm folgen weitere: Palestrina, Lassus (16.Jh.), Monteverdi, Gastoldi (17.Jh.), Händel, Pergolesi, Vivaldi (18.Jh.) und andere. Anstoss zur Psalm-Motette in deutscher Sprache gab die Reformation: Praetorius, Schütz oder in Mischform auch bei Johann Seb. Bach. Im 19.Jh. entwickelt sich dieser Traditionsstrang weiter bis auf den heutigen Tag: Mendelssohn, Brahms, Liszt, Reger, Kodaly, Strawinsky, Schönberg, Honegger u.a.

Walter Wiesli




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